Liebe Leserinnen, liebe Leser
Gesünder, zufriedener, konzentrierter: einfach «besser» soll es sein, in welcher Disziplin auch immer. Ich nehme mir oft vor in irgendetwas «besser» zu werden und tue einiges dafür. Reicht das? Und wann ist «besser» gut genug? Begleitet einen der Komparativ nicht ständig und treibt an? In dieser Ausgabe geht Prof. Matthias Wüthrich der Frage nach, warum Ehrgeiz und Christentum in einem so ambivalenten Verhältnis stehen. Die Psychologin Christine Neresheimer erklärt im Interview, woher der Drang kommt, sich zu vergleichen. Nicht viel vom Selbstoptimierungswahn hält Pfarrer Andreas Nufer – sich verbessern soll Spass machen. Und Dagmar Fenner bringt ihre philosophische Perspektive auf das Thema ein. Mögen wir das Besserwerden sportlich nehmen und uns auch darin üben, einfach einmal «nur» gut zu sein. Nicht mehr und nicht weniger.
Esther Derendinger,
Bildungsentwicklung und Kommunikation, A+W
Ehrgeiz treibt an, stellt Erfolg in Aussicht. Aber warum stehen Ehrgeiz und Christentum in einem so ambivalenten Verhältnis zueinander? Gibt es nicht so etwas wie einen legitimen «religiösen Ehrgeiz»? Die Suche nach einer Antwort führt ins Zentrum des Rechtfertigungsgedankens.
Von Matthias D. Wüthrich
Fühlst Du Dich aber und lässt dich dünken, du habest es gewiss, und kitzelst dich mit deinem eigenen Büchlein, Lehren oder Schreiben, als habest du es sehr köstlich gemacht und trefflich gepredigt, gefällt es dir auch sehr, dass man dich vor anderen lobt, willst auch vielleicht gelobt sein, sonst würdest du trauern oder nachlassen, – bist du von der Art, Lieber, so greif dir selber an deine Ohren. Und greifst du recht, so wirst du finden ein schönes Paar großer, langer, rauher Eselsohren. (Martin Luther, WA 50, 660, 31–37)
Martin Luther hat das Streben nach Ehre, Ruhm, Anerkennung und Geltung immer wieder mit scharfen Worten kritisiert. Luthers Kritik ist keine Randerscheinung im Christentum. Schon Paulus lehnt das Streben nach Ehre ab (vgl. 1. Thess 2,6) und hält die Demut hoch: «Tut nichts zum eigenen Vorteil, kümmert euch nicht um die Meinung der Leute. Haltet vielmehr in Demut einander in Ehren; einer achte den andern höher als sich selbst!» (Phil 2,3). Kein Wort bringt das von Luther anvisierte menschliche Streben prägnanter zum Ausdruck als das Wort «Ehrgeiz». Luthers Botschaft ist einfach: Ehrgeiz macht dich zum Esel!
Was ist am Ehrgeiz so verwerflich?
Ungesunder Ehrgeiz macht krank, führt zu Verbissenheit und oft auch zu sozialer Rücksichtslosigkeit. Doch es gibt auch viele lobenswerte Eigenschaften des Ehrgeizes. Ist er doch ein unablässiger Treiber wissenschaftlicher Entdeckungen, grosser Kunstwerke, exzellenter Sportlichkeit, perfekter Musikalität. Auch viele humanitäre Institutionen wie «Amnesty International» wären ohne den Ehrgeiz, sich hartnäckig für die Rechte von Menschen einzusetzen, weder zustande gekommen noch erfolgreich. Und es fragt sich, ob nicht auch das Christentum faktisch ein positiveres Verhältnis zu bestimmten Formen von Ehrgeiz hat, als eingangs angedeutet. War nicht gerade Paulus selbst ein Eiferer, der meinte: «Ich richte meinen Lauf auf das Ziel aus, um den Siegespreis zu erringen, der unserer himmlischen Berufung durch Gott in Christus Jesus verheissen ist.» (Phil 3,14) Setzen nicht die asketischen Formen des Christentums, etwa das Mönchtum, so etwas wie «Ehrgeiz» voraus? Ist eine intensive Glaubenspraxis nicht mit dem hohen Anspruch der «Nachfolge Christi» oder «Heiligung» verbunden? Ist der Ehrgeiz einer Pfarrerin, gute Predigten zu halten, nicht ebenso berechtigt wie der Ehrgeiz eines Diakons, die Jugendgewalt in einer Gemeinde zu senken? Und hat nicht auch Luther in kürzester Zeit auf der Wartburg das Neue Testament auf Deutsch übersetzt und eine enorme Schaffenskraft an den Tag gelegt? Gibt es also nicht auch im Christentum so etwas wie einen legitimen «religiösen Ehrgeiz»? – Auch das Christentum weiss, dass Mittelmässigkeit langweilig ist. Was also soll am Ehrgeiz
verwerflich sein?
Die Sehnsucht nach Anerkennung
Die Suche nach einer Antwort führt ins Zentrum des Rechtfertigungsgedankens, der nicht nur für Paulus, sondern eben auch für Luther entscheidend wichtig ist. Es geht dabei um die Annahme, dass der Mensch allein um der Gnade Christi willen gerecht wird, nicht durch seine Werke, sondern allein, indem er sich glaubend an diese Gnade hält. Um es etwas platt zu übersetzen: Gott liebt und anerkennt uns, wie wir sind – und zwar bedingungslos. Wir müssen von uns her keine (moralischen und religiösen) Vorleistungen erbringen, wir dürfen einfach darauf vertrauen. Man könnte es auch so ausdrücken: Im Rechtfertigungsgeschehen schenkt Gott dem Menschen erneut seine gottebenbildliche Ehre, mit der er ihn gekrönt hat (Ps 8,6).
Gott ehrt den Menschen, auch wenn dieser an sich selbst nichts Ehrwürdiges, Sinnvolles und Lebenswertes mehr finden kann. Genau das ist der entscheidend kritische Punkt für die Bewertung des menschlichen Ehrgeizes: Vielleicht steht auch bei ihm ein Ur-Defizit an Anerkennung und eine letzte Verzweiflung am Sinn des Lebens im Hintergrund. Doch der Ehrgeiz hat weder die Musse noch das Vertrauen, die tief ersehnte Ehre geschenkt zu bekommen. Er will sie sich mittels Leistungssteigerung selber erschaffen, er will sich die soziale Wertschätzung selber holen. Und wenn er sie hat, will er noch mehr, viel mehr. Denn letztlich wird auch die im zwischenmenschlichen Wettlauf um Sozialprestige erworbene äussere Ehre dem Menschen nicht zusprechen können, was er sich selbst nicht sagen kann: Dass er nicht mehr aus sich zu machen braucht, als er ist; dass er so, wie er ist, recht ist, gewollt ist, sein Leben Sinn macht und zutiefst ehrwürdig ist.
Das letzte Urteil
Vor dem Hintergrund meiner freihändigen Interpretation des Rechtfertigungsgedankens dürfte klar geworden sein, warum das Christentum und erst recht der Protestantismus den Ehrgeiz sehr kritisch bewertet hat. Bedeutet das nun, dass dem Ehrgeiz auch die oben erwähnten positiven Seiten letztlich abgesprochen werden müssen? Nicht zwingend. Entscheidend dürfte jedoch sein, der zwischenmenschlichen, äusseren Ehre nicht das letzte Urteil über uns zuzugestehen. Denn das letzte Urteil spricht Gott, in dem er uns mit seiner Ehre krönt. Im Vertrauen auf dieses Urteil mag sehr wohl nach äusserer Ehre gestrebt werden. Doch mit der äusseren Ehre zu «geizen» ist dann nicht mehr nötig, denn die göttlich geschenkte Ehre ist so reich, dass auch die Mitmenschen geehrt werden können. – Nur fällt uns die Unterscheidung zwischen der göttlich geschenkten und äusseren (verinnerlichten) Ehre nicht immer leicht. Vielleicht ist es da doch gut, sich hin und wieder an die Ohren zu greifen…
Prof. Dr. Matthias D. Wüthrich ist seit 2016 Assistenzprofessor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Zudem ist er Prodekan Forschung. Zu seinen eigenen Forschungsschwerpunkten gehören: Reformierte Theologie in ökumenischer und interreligiöser Perspektive, Religion and Science, theologische Raumtheorie, Karl-Barth-Forschung sowie das Theodizeeproblem. matthias.wuethrich@theol.uzh.ch
Was treibt uns an, immer besser werden zu wollen? Warum ist gut nicht einfach gut genug? Pfarrer Andreas Nufer hält nicht viel vom Selbstoptimierungswahn. Sich verbessern ja, aber es soll mit Leichtigkeit verbunden sein. Nur so freuen sich die Menschen darüber.
Von Esther Derendinger
Einen Schritt zurücktreten, zuhören, Talente erkennen, Menschen motivieren, sie partizipieren lassen; das ist das Erfolgsrezept von Andreas Nufer. Er ist Pfarrer an der Berner Heiliggeistkirche und Projektleiter der offenen kirche bern. Seine Aktionen, die oft mit einer kleinen Idee beginnen, enden zuweilen in Mega-Events, wie das «Food Save-Bankett», wo über 2000 Essen geschöpft werden. Gross geworden ist auch die Flüchtlingstage-Aktion «Beim Namen nennen», bei welcher 40‘555 Stoffbänder mit Namen der Opfer, die seit 1993 auf der Flucht nach Europa gestorben sind, bedruckt wurden und die im Juni an der Fassade der Heiliggeistkirche im Wind wehten. «Damit solche Projekte und Aktionen gelingen, sind viele Fähigkeiten notwendig», erklärt Nufer. «Ich sehe meine Aufgabe auch darin, die Talente der Menschen richtig einzusetzen und für sie Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sie sich voll einbringen können.» Sein Ziel ist es nicht nur, dass ein Projekt erfolgreich umgesetzt wird, sondern genauso wichtig ist es ihm, dass es den Mitwirkenden wohl ist, denn so können sie «das Beste» aus sich herausholen.
Selbstoptimierung betrachtet Nufer kritisch, besonders dann, wenn das «Besser-werden-wollen» verbissen verfolgt und zu einem Wahn wird. Er selbst liebt Herausforderungen, will Neues ausprobieren, hat den Anspruch, dass Dinge glücken. «Sich verbessern wollen soll Spass machen und sich leicht anfühlen, sonst bringt es Unheil», ist er überzeugt. Ziele haben in Nufers Arbeit trotzdem einen hohen Stellenwert. Gerade bei Projekten mit unterschiedlichen Partnern braucht es unbedingt Ziele, ist er überzeugt. Diese müssen von allen gemeinsam erarbeitet werden und smart sein. Das braucht zwar Zeit, räumt er ein, aber es seien schlussendlich die Ziele, welche die Richtung angeben würden und über den Erfolg eines Projekts entscheiden sowie Missverständnisse vorbeugen.
Der Berner Pfarrer nimmt sich auch persönlich einiges vor, will sich verbessern: im Zuhören, im Beobachten und im Begleiten von Menschen beispielsweise. «Diese Ziele sind halt nicht wirklich messbar, aber sie sind in meinem Bewusstsein und ich kann immer wieder darauf achten bei meiner Arbeit», erklärt er. Und ja, da gebe es auch noch die Jahresziele aus den Personalgesprächen, die würden sich aber ab und an etwas gekünstelt anfühlen.
Fehlerkultur fördern
Die Kirche selbst muss nicht immer besser werden, ist Nufer überzeugt. Viel wichtiger sei es, die Ziele im Auge zu behalten: das Evangelium zeitgemäss vermitteln, viele Menschen partizipieren lassen, wenn sie das möchten, und dafür sorgen, dass die Kirche relevante Themen aufgreift. Sie kann also einiges zu einem gelingenden Leben beitragen, ohne perfekt zu sein. Misserfolge gehören jedoch auch bei der Kirche dazu. «Es kann vorkommen, dass wir Themen wählen, sich aber niemand dafür engagieren will. Schwierig ist es auch, wenn es Neider gibt in Projektgruppen oder Personen zu sehr dominieren», erklärt Andreas Nufer. Fehleinschätzungen und Missverständnisse hemmen den Erfolg ebenfalls. Aber Fehler machen gehört dazu und es entspannt die Teilnehmenden in Projektgruppen, wenn sie sehen, dass auch andere nicht perfekt sind. Seine Aufgabe bei der Arbeit mit Menschen, sieht er im Empowerment, also darin für Menschen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sie sich einbringen und entfalten können. «Gewinnen und verlieren soll man sportlich nehmen, beides gehört zum Leben», sagt er. Auch Wettbewerb tue der Kirche gut, findet er. Sich messen mit anderen mache Spass und es brauche etwas Mut, sich der Herausforderung zu stellen. Mit Sportsgeist und Humor komme das aber gut.
In der Kirche und in der Projektarbeit von Andreas Nufer steht die Gemeinschaft im Vordergrund. Um Ziele und Geld geht es trotzdem immer wieder. «Natürlich soll, ja muss auch die Kirche korrekt budgetieren, wirtschaftlich handeln und Ressourcen sinnvoll einsetzen, das ist aber mehr Methode als Ziel», erklärt Nufer. Damit er seine Beteiligungsprojekte finanzieren kann, schreckt er auch vor grossen Fundraising-Aktionen nicht zurück. Ziele verfolgt er hartnäckig und kreativ. Ein breites Netzwerk in Wirtschaft, Politik und weiteren Organisationen erleichtert ihm diese Arbeit.
Freiwilligen soll es wohl sein
Bei der offenen kirche bern werden alle Projekte ausgewertet. Was war gut, was hätte besser laufen sollen? Die Learnings fliessen in künftige Aktionen ein. Anderen gegenüber zeigt sich Andras Nufer tolerant. Es ist ihm wichtiger, dass sich die Menschen beteiligen und es ihnen wohl ist in der Gemeinschaft. Auch Unperfektes kann positiv enden, wie beispielsweise kürzlich eine schlecht vorbereitete Kunst-Vernissage. «Die Künstlerinnen und Künstler stellten ihre Werke selbst vor», berichtet Nufer. «Alles war spontan, improvisiert und chaotisch, jedoch authentisch und schlussendlich sehr befreiend für alle Beteiligten – vor allem für die Kunstschaffenden aus anderen Kulturkreisen.» Damit aber Freiwillige motiviert sind «ihr Bestes» zu geben, achtet die offene kirche bern darauf, dass sie ihre Talente einsetzen können, und ermuntert sie, das zu tun, was sie gerne machen, und zwar auf ihre eigene Art. Sie will die Menschen nicht ändern, sie sollen sein dürfen, wie sie sind, gibt den Mitwirkenden Feedback und die Gewissheit, dass sie Fehler machen dürfen. Auch Randständige, schräge Vögel und Süchtige sind zur Mitarbeit eingeladen. «Bei uns geht es mehr um ein gutes Arbeitsklima, Sinnhaftigkeit, Aufmerksamkeit und gute Kommunikation als um eine perfekte Performance», sagt Andreas Nufer. Es ist ein natürlicher Ansporn, sich zu verbessern. Menschen freuen sich darüber, wenn ihnen Dinge gelingen, gerade auch dann, wenn es Herausforderungen zu meistern gab. Er ergänzt: «Klappt es nicht wie geplant, ist das ja auch nicht schlimm.»
Andreas Nufer (56) ist Pfarrer an der Heiliggeistkirche in Bern und Projektleiter der offenen kirche bern. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern. andreas.nufer@refbern.ch
Menschen sind selten zufrieden, wie sie sind. Sie versuchen sich und ihr Leben stets zu verbessern. Das Streben nach Höherem und Besserem scheint im Menschen angelegt und Antrieb kultureller Weiterentwicklung zu sein.
Von Dagmar Fenner
Das Kontinuitätsargument ist unter Befürwortern neuer und insbesondere auch technologischer Anthropotechniken sehr beliebt. Es beweist allerdings noch lange nicht, dass sämtliche Formen der Selbstoptimierung tatsächlich Verbesserungen darstellen. Denn Menschen können sich täuschen und vermeintliche «Verbesserungen» können sich als «Verschlechterungen» herausstellen. Um Veränderungen als Verbesserungen oder Verschlechterungen einstufen zu können, müssten zuerst Beurteilungskriterien oder Wertmassstäbe benannt werden.
Die theoretischen Zielvorstellungen und praktischen Methoden der Selbstverbesserung haben sich im Laufe der Geschichte stark gewandelt. Grob vereinfacht war für die Menschen der Antike der Zielzustand in der teleologischen Ordnung der Natur vorgegeben, und alle Massnahmen sollten nur das vollenden, was in der Natur angelegt ist. Auf diese Vorstellung immanenter Zwecke in der Natur folgte im Mittelalter der Glaube an die vollkommene göttliche Schöpfungsordnung. Auch wenn die gottgewollte Vollkommenheit erst dank göttlicher Gnade im Jenseits erreichbar ist, sollen die Menschen die Abweichung infolge der Ursünde vorwiegend mit geistigen und religiösen Anstrengungen so weit wie möglich schon im Diesseits abschwächen.
In der Aufklärung setzte sich das Streben nach Perfektionierung als umfassendes Denk- und Lebensmodell durch. Der Mensch wurde einerseits erkannt als veränderbares und erziehbares Wesen, andererseits zugleich als mangelhaft und verbesserungswürdig. Kant zufolge hat der Mensch geradezu eine moralische Pflicht, seine leiblichen, seelischen und geistigen Kräfte zu vervollkommnen. Als die Vorstellungen von einer Naturteleologie oder göttlichen Ordnung an Bedeutung verloren, mussten die Eingriffsmöglichkeiten nicht länger hinsichtlich traditioneller Orientierungsvorgaben legitimiert werden. In der Folge war aber immer weniger klar, nach welchen normativen Kriterien denn eigentlich «Verbesserungen» von «Verschlechterungen» zu unterscheiden sind.
Konservative Kritiker
In der gegenwärtigen Kontroverse zum gesellschaftlichen Selbstoptimierungstrend haben sich vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund zwei oppositionelle Lager herausgebildet: Konservative Kritiker treten für die Bewahrung von Tradition, Schöpfung und menschlicher Natur ein. Sie appellieren an eine Haltung der Ehrfurcht und Demut gegenüber der natürlichen Ordnung. Das eigene Leben und die persönlichen Fähigkeiten und Talente sollen dankbar als Geschenke angenommen statt als etwas zu Formendes betrachtet werden. Skeptisch wird das gegenwärtige Optimierungsstreben als gesellschaftlicher Perfektionszwang oder -wahn beargwöhnt, sodass «besser» bis zur weiteren Prüfung erst einmal als «schlechter» gewertet wird. Gewarnt wird vor einer «Entmenschlichung» sowie dem drohenden «Verlust des Menschseins» oder der «Menschenwürde». Offen oder verdeckt steht dahinter häufig die christliche Überzeugung, die sich technologisch perfektionierenden Menschen würden ihren Ort in der göttlichen Schöpfung gründlich missverstehen und wollten Gott spielen.
Liberale Befürworter
Liberale Vertreter aus dem gegnerischen Lager werfen den biokonservativen Kritikern vor, mit suggestiven und stark emotional aufgeladenen Begriffen wie «Würde» oder «Natur» und diffusen pessimistischen Zukunftsperspektiven die Diskussion unnötigerweise zu dramatisieren. Denn der Mensch hat sich als das einzige nicht-festgestellte Tier im Laufe der natürlich-biologischen und kulturellen Evolution so stark gewandelt, dass die Idee einer feststehenden «Natur» des Menschen als unhaltbar und die Rede vom «Verlust» des Menschseins oder des menschlichen Selbstverständnisses als reichlich übertrieben erscheinen. Angesichts wandelbarer kultureller Menschenbilder und Wertvorstellungen entpuppt sich die anthropologische Frage «Was ist der Mensch?» als die ethische Frage «Was soll der Mensch sein?». Auch ist das traditionelle christliche Kontingenzargument mit dem Generalverdacht gegen das Streben nach mehr Gesundheit, Lebensqualität und Glück mittels medizinischer Fortschritte rational nicht mehr vermittelbar. Denn der Glaube an eine sinnvolle göttliche Schöpfung kann nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden. Christliche Grundeinstellungen wie die Ehrfurcht vor dem Leben, der Topos vom Leben als Geschenk Gottes oder das Verbot, Gott zu spielen, helfen in der Debatte nicht weiter. Sie bieten keine Kriterien zwischen konkreten ethisch erlaubten und verbotenen Eingriffen in die Natur und vermögen viele nichtreligiöse Menschen ohnehin nicht anzusprechen.
Glück und Gerechtigkeit als Massstäbe
Um jenseits des misslichen Lagerdenkens in einem dringend erforderlichen gesellschaftlichen Diskurs normative Bezugsgrössen für die Bewertung von «besser» und «schlechter» bestimmen zu können, müssen folgende Dimensionen unterschieden werden: Aus einer individualethischen Perspektive kommt als genereller Bewertungsmassstab für «Verbesserungen» nur das Glück oder gute Leben der sich optimierenden Personen infrage. Allerdings sind auch individuelle Glücksvorstellungen kulturell geprägt und kritisierbar, etwa die vielen oberflächlichen Versprechungen des schnellen Glücks wie beispielsweise durch Schönheitsoperationen, Glückscoaching oder das Schlucken von Glückspillen. Diskutiert werden aber in der Selbstoptimierungsdebatte auch objektive «Güter» oder Strebensziele, die für das gute Leben aller Menschen unabhängig von individuellen Lebensplänen bedeutsam sein sollen, z.B. Gesundheit, Intelligenz oder Selbstdisziplin. Aus einer sozialethischen oder moralischen Perspektive handelt es sich dann um «Verschlechterungen», wenn die Solidarität mit «unperfekten» Menschen abnimmt oder diese diskriminiert werden. Oder dann, wenn sich nur noch finanziell Bessergestellte bestimmte Selbstoptimierungstechnologien leisten können und sich dadurch die soziale Ungerechtigkeit verschärft.
Dagmar Fenner ist Titularprofessorin für Philosophie an der Universität Basel und Autorin zahlreicher Bücher über Ethik. Letztes Jahr erschien von ihr «Selbstoptimierung und Enhancement. Ein ethischer Grundriss» (UTB 2019). www.Ethik-Fenner.de. dagmar.fenner@unibas.ch
Wer ist grösser? Wer ist älter? Wer ist schneller?
In diesem Herbst ist auch für meine Tochter alles etwas anders. Nicht wegen Corona. Nicht wegen der abgesagten Ferien. Nein. Sie ist jetzt ein Kindergartenkind. Sie freut sich. Ich auch. Aber da ist noch etwas. Etwas, das mir manchmal kurz kurz das Herz zusammendrückt: wenn ich ihre fröhlichen Beine über die Wiese rennen sehe. Oder sie sich versunken eine Geschichte anhört. Dann wünsche ich mir, dass sie das nicht verliert. Dieses im Moment sein. Denn mit der Volksschule betritt sie unwiederbringlich ein System ausgeklügelter Bewertung. Und auch die Kinder selbst vergleichen sich oft untereinander. Wer ist grösser? Wer ist älter? Wer ist schneller?
Wissenschaftler sagen, dass dies zur Erforschung der Welt dazugehört. Auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zu achten. Ein natürlicher Vorgang, sozusagen. Es kann gut sein, dass mich das alles viel mehr stört als sie. Ich sehe ja auch, wie sie Wettrennen veranstalten. Intuitiv. Wie sie sich die Bäuche vor Lachen halten, wenn sie beim Memory gewinnen. Und davon stampfen, wenn es jemand anders tut. Das ist wohl auch der Grund, warum ich am liebsten mit ihnen «Obstgarten» spiele, wo alle zusammen gegen den frechen Raben kämpfen.
Als mein ältester Sohn mit seinem ersten Zeugnis heimkam, schrieb der Lehrer einen Brief dazu. Dort hiess es, dass dies nichts darüber aussage, ob er gut zeichnen könne. Toll Fussballspielen. Oder mit Freunden Baumhütten baue. Ich weiss nicht mehr genau, welche Noten er hatte. Aber ich erinnere mich an jedes einzelne dieser Worte. Und wenn das Herz wieder drückt, dann flüstern sie mir zu, dass ich nicht mehr tun kann, als meine Tochter zu stärken. Deshalb sind wir während der Sommerferien in einen Laden gegangen. Nur wir zwei. Dort gab es ein Regal, in dem sich bunte Umhängetaschen aneinanderreihten wie ein Regenbogen. Sie durfte sich eine auswählen. Sie strahlte dabei noch mehr als das Neongelb der Tasche. Danach gingen wir Eis essen. So viel wir schafften.
Seraina Kobler ist 1982 in Locarno geboren. 2017 gründete Sie die Agentur Federa, wo sie als Autorin, Beraterin und Lektorin tätig ist. Seraina Kobler studierte Kommunikation und Literarisches Schreiben und arbeitete über mehrere Jahre als Redaktorin bei verschiedenen Zeitungen. Ihr erster Roman «Regenschatten» erscheint im September 2020. www.serainakobler.ch
«Kirche darf politischer sein»
Ich habe Überzeugungen und stehe dafür ein. Als ich an einer Demo teilnahm und die Leute anfingen, Scheiben einzuschlagen, stellte ich mich quer. Gewalt kann nie eine Lösung sein. Menschen verbinden und zusammenbringen, das ist mein Antrieb. Das ist für mich Jesus Christus.
Meine Eltern konnten mit der Institution der katholischen Kirche nichts anfangen und traten aus. Es gab aber einen reformierten Pfarrer in unserer Strasse, der hat die Menschen einfach angenommen, wie sie sind. Das beeindruckte mich und führte dazu, dass ich mich konfirmieren liess. Der Glaube gibt mir die Kraft, über mich selbst hinauszuwachsen und für andere Menschen da zu sein. Genau das sehe ich als die Aufgabe der Kirche: Sie soll bei den Menschen sein, sich für die Minderheiten einsetzen. Für mich heisst das auch: Sie darf politischer sein.
Mein politisches Engagement prägt mein theologisches Denken und meine Theologie prägt meine politische Einstellung. Wichtig ist mir die Annahme des Gegenübers: Es ist ein rotes Tuch für mich, wenn Menschen anderen Menschen Dinge absprechen oder zusprechen, ohne mit dem anderen in Dialog zu treten.
Den Weg zum Theologiestudium haben für mich Pfarrpersonen gepflastert, die ihre Meinung sagen und authentisch leben: Der Pfarrer in meiner Strasse und weitere, die mich mit ihrem Eintreten für soziale Anliegen überzeugten. Ob ich selbst Pfarrer werde, weiss ich noch nicht. Als Akademiker sehe ich mich nicht, auch wenn ich wissensbegierig bin. Ich will bei den Menschen sein.
