Liebe Leserinnen, liebe Leser
Das Magazin kommt aus sicherer physischer Distanz zu Ihnen ins Haus – zugleich hoffe ich, dass Sie darin Gedanken finden, die Sie anstecken: Stephan Hagenow berichtet von Distanzlinien im Neuen Testament und von der hochgradigen Ansteckung der Nähe Gottes.
Zu einem sorgfältigen Umgang mit den Menschen, die Kircheninsider*innen «distanziert» nennen, ermuntert Stefan Grotefeld. Wie das in der Jugendarbeit gehen kann mit Distanz, die es braucht, und Nähe, die durch gemeinsames Erleben entsteht, erzählt Pesche Schmid. Und wenn Sie schon immer wissen wollten, wie Sie raus aus der Distanz kommen und Mut zum Tanzen finden, dann gibt es bei Martin Dürr passende Inspirationen. Gute Lektüre und neue Blicke auf die Lücke, die unseren Alltag zurzeit prägt.
Juliane Hartmann,
Beauftragte für dieAusbildung A+W
Distanz und Abgrenzung sind nichts Neues. Bereits Paulus ringt mit den Reinheits- und Heiligkeitsvorstellungen und deutete diese um. Stephan Hagenow macht sich Gedanken zu «social distancing» im Neuen Testament und um die Nähe Gottes als offensive Integrationskraft.
Von Stephan Hagenow
In 1Kor 7,14 entwickelt Paulus eine interessante Denkfigur, die mein Doktorvater Klaus Berger als «offensive Reinheit» bezeichnet hat: «Denn der ungläubige Mann ist geheiligt durch die Frau, und die ungläubige Frau ist geheiligt durch den gläubigen Mann. Sonst wären eure Kinder unrein; nun aber sind sie heilig». Der ehemalige Phärisäer Paulus ringt mit den Reinheits- und Heiligkeitsvorstellungen seiner Zeit. Er schafft sie nicht ab, sondern deutet sie um. Für die ersten Christen war «social distancing» ein enormes Problem im Alltag. Juden und die frühen Christen, die sich noch ganz im Umfeld der Synagoge bewegten, konnten auf dem Markt nicht einfach einkaufen gehen, nicht mit Nichtjuden zusammen essen oder ausserhalb der Religionsgemeinschaft heiraten. Diese religiös begründete soziale Distanz ist eine der Wurzeln für den antiken Antijudaismus. Die strengen Regeln wurden als ausgrenzend empfunden und als Zeichen fehlender Toleranz gedeutet. Für die meisten Römer und Griechinnen war es selbstverständlich, dass sie in mehreren kultischen Vereinen Mitglied waren, unterschiedliche Tempel besuchten und Rituale pflegten. Auch Paulus wird gefragt, ob Christen Götzenopferfleisch essen dürften, obwohl es einer anderen Gottheit geweiht war. Oder in 1Kor 7, wie man damit umgeht, wenn Christen Nichtchristinnen heiraten. Im Galaterbrief sind die Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen deutlich zu spüren. Paulus, Jakobus und Petrus streiten sich darüber, wie man in dieser neuen Gemeinschaft aus Juden und Heiden leben soll. Auch hier entzündet sich die Frage am Essen und an der Beschneidung als Identitätsmerkmal.
Konversion führt zu Abgrenzungen
Mit der Konversion war eine neue soziale Rolle verbunden. Es geht um mehr als um eine Hinwendung zu einem neuen Glauben. Schon im Umfeld der Synagogen gab es die «Gottesfürchtigen» (Apg 13,43 sebomenoi / Proselyten). Der gesellschaftliche Status verändert sich durch die Aufnahme in eine neue Gemeinschaft. Es finden automatisch neue Abgrenzungen statt. Ich habe das in Indien erlebt. Wer Christ wurde, musste die Familie verlassen und einen neuen Namen annehmen. Gemeinsames Essen, Trinken und Feiern war nicht mehr möglich. Viele konvertierten deshalb heimlich zum Christentum. In der Logik des Hindu-Nationalismus brauchten die konvertierten Christen nun auch keine staatliche Unterstützung mehr, weil sie ja jetzt durch die neue Gemeinschaft getragen wurden. Kein Wunder, konvertierten deshalb ganze Familien und Dörfer.
Zurück zu Paulus: Er deutet die traditionellen Reinheitsvorstellungen um und folgt damit Jesus. Nicht die Unreinheit des heidnischen Partners ist ansteckend, sondern die neue Identität hat Folgen für die heidnische Partnerin. Es geht nicht mehr um die Kategorien von Abgrenzung und Vermeiden, sondern darum neu zu definieren, was verbindet. Die klassischen kultischen Kategorien werden nicht in Frage gestellt, aber Jesus und Paulus suchen nach der Nähe Gottes, die wirklich trägt, heilt und erlöst. Genau deshalb geht Jesus in den Evangelien auf die Marginalisierten und Ausgegrenzten zu und überwindet das «social distancing» der Gesellschaft. Er überwindet durch Heilung und Exorzismen die äussere Unreinheit der Kranken. Die Taufe reinigt und begründet die Aufnahme in eine neue Wirklichkeit. Und zugleich macht Paulus klar, dass auch die neue Gemeinschaft befleckt und verunreinigt werden kann (1Kor 5–6). Faszinierend finde ich, dass diese durch die Taufe neu gewordenen Menschen sich eben nicht mehr distanzieren müssen, sondern andere anstecken können mit ihrer Heiligkeit, mit ihrer Nähe zur Quelle des Lebens.
Offensive Reinheit in der Volkskirche
Womit stecken wir die Distanzierten heute an, die rund 40 Prozent unserer Kirchenmitglieder ausmachen? Womit unsere Verächter? Soziologen erklären uns, dass wir sie nicht vereinnahmen dürfen, weil sie eben nicht zu nahe am Feuer stehen wollen. Senden wir aus sicherer Distanz christliche Reiki-Segensstrahlen in der leisen Hoffnung, dass sie doch noch kommen? Wo sind wir in der Volkskirche offensiv und erzählen so spannend von der Nähe Gottes, dass sich andere angezogen fühlen? Wo überwinden wir soziale Grenzen in den Gemeinden, wenn wir nur noch zweieinhalb Milieus ansprechen? Heute regt sich niemand mehr auf, wenn Reformierte Katholiken heiraten oder umgekehrt. Aber wenn Pfarrerinnen einen Juden oder einen Muslim heiraten, müssen sie sich immer noch viele Fragen stellen lassen. Umgekehrt – wo bewahren wir unsere Gemeinschaft vor «Befleckung» (2Kor 7,1)? Dürfen wir AFD-Vertreter, die offen islamophobe und rassistische Parolen vertreten, oder Befürworterinnen der Judenmission ausschliessen, wie es der deutsche Kirchentag tut? Müssten wir nicht ganz selbstbewusst für unsere Überzeugungen einstehen, statt uns ängstlich abzugrenzen?
Gottes Nähe als Integrationskraft
Auch in den heutigen Diskussionen um Sexualität und neue Formen von Partnerschaft könnten wir vom Konzept der offensiven Reinheit lernen. Diese Lebensformen sind nicht bedrohlich für die christliche Gemeinschaft oder die Ehe. Entscheidend ist die Nähe Gottes – wer nur auf Vermeidungs- oder Distanzierungsstrategien setzt, fällt hinter die neutestamentliche Umdeutung der kultisch-sozialen Reinheitsvorstellungen zurück. Die Missionskraft und Attraktivität des frühen Christentums begründen sich vor allem in ihrer Integrationskraft und im Überwinden sozialer Grenzen, die zugleich zum Markenkern wurden – auch wenn bald neue Ausgrenzungen stattfanden, nachdem das Christentum Staatsreligion wurde. Vielleicht lohnt es sich in einer schwindenden Volkskirche wieder, sich auf die offensive Integrationskraft des christlichen Glaubens zu besinnen. Konzentrieren wir die Kräfte darauf, anstatt uns in Rückzugsgefechten, Abgrenzungen oder in der Verteidigung alter Privilegien zu verlieren. Mit welchen Werten wollen wir die heutigen Distanzierten ausserhalb unseres Kirchensteuerregisters infizieren? Wo sind wir aufgerufen zu heilen und menschliche Abgrenzungen zu überwinden? Gottes Nähe ist hochgradig ansteckend!
Stephan Hagenow ist Pfarrer und Leiter Personalentwicklung Pfarrschaft der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn
stephan.hagenow@refbejuso.ch
Rund neunzig Prozent unserer Mitglieder sind Distanzierte. Bis heute erhalten sie jedoch nur wenig Aufmerksamkeit. Dabei steigt mit der Distanz ihre Bereitschaft zum Kirchenaustritt. Umso wichtiger ist es, sie besser zu verstehen und ihnen mit Wertschätzung zu begegnen.
Von Stefan Grotefeld
Wann immer ich von Distanzierten rede, fange ich mir einen Rüffel ein. Ich verstehe das. Denn wer von Distanzierten spricht, der scheint zu wissen, wo sich das Zentrum der Kirche befindet. Und er macht andere zu Randständigen. Dabei sind es meist kirchliche Mitarbeitende, die sich über den Begriff aufregen, während die, von denen die Rede, ist, weniger Probleme damit haben. Vielmehr haben sie selbst das Gefühl, nicht zum Kern der Gemeinde zu gehören, ohne deswegen gekränkt zu sein. Im Gegenteil, sie fühlen sich dort im Grunde ganz wohl. Und es macht einen Unterschied, ob jemand selbst auf Distanz geht oder andre zu ihr oder ihm. Natürlich kann man sich fragen, ob das Distanzgefühl der Distanzierten nicht dadurch verstärkt wird, dass man sie so nennt. Allerdings ist mir bis heute kein besseres Wort begegnet, um diejenigen zu bezeichnen, die sich nicht oder nur höchst selten am kirchlichen Leben beteiligen. Bis es so weit ist, verwende ich es weiter.
Die Kirchensoziologie hat die Distanzierten bereits vor siebzig Jahren entdeckt. Doch in der kirchlichen Praxis finden sie bis heute nicht genügend Aufmerksamkeit. Unverständlich ist das nicht. Denn natürlich liegt es nahe, sich um diejenigen zu kümmern, die sich für die eigenen Angebote interessieren und daran teilnehmen. Doch auf rund neunzig Prozent der Kirchenmitglieder trifft das nicht zu. Schon deshalb sind sie wichtig. Hinzu kommt, dass längst nicht alle Distanzierten der Kirche von Ferne die Treue halten, wie man einmal meinte. Vielmehr steigt mit der Distanz die Bereitschaft zum Kirchenaustritt, während die Bereitschaft sinkt, die kirchliche Sozialisation der eigenen Kinder zu fördern. In der Stadt Zürich werden inzwischen nur noch rund sechs Prozent aller Neugeborenen reformiert getauft. – Am Umgang mit den Distanzierten entscheidet sich die Zukunft der Kirche.
Distanzierte gibt es nur im Plural
Mehr Aufmerksamkeit gebührt den Distanzierten aber nicht nur aus strategischen, sondern auch aus theologischen Gründen. Ich glaube, dass sich in der Auseinandersetzung mit den Distanzierten etwas lernen lässt. Denn deren Distanz kommt nicht von ungefähr. Vielmehr sind unsere Angebote offenbar nicht relevant für sie. Wenn wir aber davon überzeugt sind, dass der christliche Glaube auch den Distanzierten etwas für ihr Leben Relevantes zu sagen hat, dann können wir nur im Gespräch mit ihnen herausfinden, was das ist.
Wer sich mit Distanzierten befasst, sollte zweierlei beachten. Zunächst sollte er oder sie sich darüber im Klaren sein, dass es Distanzierte nur im Plural gibt. So kann man beispielsweise unterschiedliche Grade und Gründe der Distanziertheit beobachten. Manche nehmen gelegentlich am kirchlichen Leben teil, andere nie und viele stehen der Kirche einfach indifferent gegenüber. Einige gehen bewusst auf Distanz, weil sie sich über etwas geärgert haben, andere schätzen die Kirche vielleicht aufgrund ihres diakonischen und seelsorglichen Engagements, finden bei ihr aber nichts, was für sie selbst von Bedeutung wäre. Verschiedenartig sind die Distanzierten aber auch insofern, als sie in unterschiedlichen Lebenswelten zuhause sind. Aufgrund der Lebensauffassung, der Lebensweise und der sozialen Lage unterteilt das Sinus-Institut die Schweizer Bevölkerung in zehn verschiedene Milieus. Dass Menschen in unterschiedlichen Lebenswelten daheim sind, hat nicht nur Konsequenzen dafür, wie man mit ihnen sprechen sollte, will man sie erreichen, sondern vielleicht auch dafür, inwiefern der christliche Glaube für sie von Relevanz ist. Gut möglich, dass dies bei der Arrivierten etwas anderes ist als bei dem jungen Eskapisten, der spass- und freizeitorientiert durchs Leben geht.
Relevanzerfahrungen schaffen
Ausserdem sollte man nicht versuchen, aus Distanzierten um jeden Preis Beteiligte zu machen. Wer das versucht, ist zum Scheitern verurteilt und frustriert sich und andere unnötig. Selbstverständlich haben Bestrebungen, mehr Partizipation in der Kirche zu ermöglichen, ihr gutes Recht und verdienen Unterstützung. Die Kirche lebt von Menschen, die sich engagieren. Doch das Bestreben, aus der Kirche eine Beteiligungskirche zu machen, hat Grenzen. Manche Menschen lassen sich vielleicht durch geschicktes Werben gewinnen, andere mögen bereit sein, sich für ein bestimmtes Projekt und für eine bestimmte Zeit zu engagieren. Doch bei vielen anderen stossen derartige Avancen auf keinerlei Resonanz. Das gilt es zu akzeptieren.
Wenn es nicht (nur!) darum gehen kann, aus Distanzierten Beteiligte zu machen, worum geht es dann? Ich finde, es geht um Wertschätzung, Relevanz und Sorgfalt. Mit Wertschätzung meine ich, dass Distanzierte nicht das Gefühl haben sollten, sie seien Mitglieder zweiter Klasse und etwas sei mit ihnen nicht Ordnung. Immerhin sind sie bei aller Distanziertheit Mitglied der Kirche geblieben. Dafür sollten wir ihnen dankbar sein und dies auch auf geeignete Weise zum Ausdruck bringen. Das allein genügt jedoch nicht. Vielmehr kommt es darauf an, dass Distanzierte die Erfahrung machen, dass der christliche Glaube für sie von Relevanz ist. Dabei können solche Relevanzerfahrungen recht unterschiedlicher Art sein und sie sind weder an Beteiligung noch an persönliche Nähe gekoppelt. Dass die Digitalisierung hierfür neue Möglichkeiten bietet, liegt auf der Hand. Nicht zuletzt aber geht es darum, dass Kirche den Distanzierten, wo sie mit ihnen in Kontakt kommt, mit grösster Sorgfalt begegnet. Denn die wenigen Begegnungen, die diese mit Pfarrerinnen und Pfarrern machen, prägen nun einmal deren Bild von der Kirche. Wie gross die Bedeutung von Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Abdankungen und Weihnachtsgottesdiensten ist, wissen wir. Aber tragen wir dem auch genügend Rechnung?
Stefan Grotefeld ist seit November 2020 Kirchenratsschreiber der Reformierten Kirche Kanton Zürich. Davor leitete der Theologe und Ethiker während sechs Jahren die Abteilung Lebenswelten der Zürcher Landeskirche.
stefan.grotefeld@zhref.ch
Rollendistanz gilt in der Sozialarbeit als zentrale Kompetenz. Pesche Schmid ist Jugendarbeiter und definiert Professionalität anders. Freundschaft ist Teil seiner Arbeit. Ein Gespräch über Aufmerksamkeit, Grenzen und Macht in der Jugendarbeit.
Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Sie sind Jugendarbeiter in einer grossen, vielfältigen Kirchgemeinde und begleiten Jugendgruppen, organisieren Lager und erlebnispädagogische Events. Welche Bedeutung hat die Nähe zu Jugendlichen in Ihrer Tätigkeit?
Pesche Schmid: Nähe ist Bestandteil der Arbeit. Sie gehört dazu. Nähe entsteht in regelmässigen Treffen, gemeinsamen Abenteuern und oft im Teil nach dem offiziellen Event. Nähe entsteht zum Beispiel auch in einem gemeinsamen Gebet, das ist ein intimer Moment. Nähe gibt es überall dort, wo Menschen das Leben, ihre Freude und ihre Angst teilen. Für mich entsteht das auch im Kleinen: Mir ist zum Beispiel wichtig, dass ich jeden und jede mit Namen begrüsse.
Zur professionellen Arbeit mit Jugendlichen gehört die Rollendistanz. Wie bringen Sie Distanzierung und Empathie für die Jugendlichen und ihre Lebenswelt zusammen?
PS: Ich bin nicht sicher, ob die reine Empathie im kirchlichen Umfeld eine anzustrebende Haltung ist. Denn als Christen und Christinnen sind wir so oder so geschwisterlich miteinander verbunden. Die Nähe ist da, ob wir wollen oder nicht. Aber die Bedeutung von Nähe hat sich in meiner bisherigen Tätigkeit verändert. Als 25-jähriger Jugendarbeiter hatte ich eine andere Rolle und eine kürzere Distanz zu den Jugendlichen. Ich hatte mehr Zeit. Heute habe ich drei Kinder und bin verheiratet. Ich habe nicht mehr die Ressourcen, um nach einer Sitzung noch in die Beiz zu gehen oder nächtelang im Kirchgemeindehaus weiter zu diskutieren. Heute lege ich aber im Gegenzug viel mehr Wert auf das Befähigen und Ermächtigen von Jungleitenden. Ich habe einmal ein tolles Referat gelesen mit dem Titel: Freundschaft der Sauerteig der Diakonie. Ich sehe deshalb Freundschaft als Teil meiner Professionalität.
Ich kann mir vorstellen – gerade in Zeiten von #me too – dass von Ihnen in Ihrer Rolle eine hohe Achtsamkeit für die Grenzen in ihrer Rolle verlangt wird?
PS: Mit Frau und Kinder habe ich hier einen Vorteil. Ich habe eine natürliche Distanz zu den Jugendlichen. Und ich habe auch privat einen Freundeskreis, bin also nicht abhängig vom Wohlwollen der Jugendlichen. Das begrenzt schon viele Abhängigkeiten. Dennoch ist es eine Realität, dass es in der Jugendarbeit Grenzverletzungen geben kann. Dem muss man sich bewusst sein. Wir hatten zum Beispiel lange eine Umarmung als Begrüssungsritual. Nun finde ich es nicht mehr angebracht, nicht wegen «me too», sondern weil meine Distanz grösser wird. In meiner Situation wäre es anbiedernd und entspräche mir nicht. Als Jugendarbeiter musste ich schon eingreifen. In einem Fall hat ein erwachsener Leiter anzügliche Bemerkungen gemacht und Fotos von Teenies gespeichert. Als Jugendarbeiter musste ich Verantwortung übernehmen, dass Fotos gelöscht und die rechtlichen Fragen geklärt werden. Einen Leiter musste ich entlassen, weil sein Verhalten gegenüber Teilnehmerinnen nahe war. Sie haben mir berichtet, dass es sich komisch anfühlt. Und das muss mir keine Jugendliche genauer begründen oder belegen. Wenn es sich komisch anfühlt, dann ist es komisch.Professionelle Nähe zu Jugendlichen
Wie thematisieren Sie das Thema Nähe und Distanz in Ihrer Arbeit?
PS: Wir thematisieren etwa alle drei Monate ein sogenanntes Rucksackthema. Also ein Thema, das schwerer verdaulich ist. Zum Beispiel «Suizid» oder «Nähe und Distanz». Es geht um das Wohlbefinden, miteinander unterwegs zu sein – besonders wenn Neue hinzukommen. Ich bereite das mit anderen Jungleitenden zusammen vor. Bei schwierigen Themen wie der Prävention sexueller Ausbeutung ziehen wir auch Fachleute aus Präventionsfachstellen hinzu, die wertvolle Impulse geben können.
Was tun Sie, wenn Sie unter Jugendlichen Unsicherheiten beobachten und die Balance zwischen Nähe und Distanz unter ihnen nicht stimmt?
PS: Wichtig ist, dass ich es anspreche. Aber gerade bei Teenies ist vieles einfach ein Spiel. Das ist nicht immer alles ernst gemeint. Wenn Teenies untereinander herumblödeln ist das nicht dasselbe, wie wenn 18-jährige sich so verhalten. Bei Teenies spreche ich das Verhalten an, ohne es zu verurteilen. Denn eine Entwicklung braucht auch Erprobungsräume. In einem gewissen Alter sind alle zusammen unsicher. Es ist ein jugendliches Suchen innerhalb der Peer-group im gleichen Alter. Meist passiert da kein Ausnützen. Anders ist es, wenn das Alter und die Interessen unterschiedlich sind. Dort muss ich einschreiten.
Je nach Situation empfinden Menschen unterschiedlich. Wie entscheiden Sie, wann es Nähe und wann es Distanz braucht?
PS: Es ist ganz einfach: Ich frage! Bei bestehenden Gruppen kenne ich die Teilnehmenden mit der Zeit und ich weiss, was jede oder jeder braucht. So kann ich gezielter nachfragen. Und ich überlege mir bereits in der Vorbereitung eines Anlasses, bei wem ich nachfragen möchte.
Sind Sie vorsichtiger geworden mit körperlichen Berührungen, seit es eine mediale Missbrauchsdebatte gibt?
PS: Ich habe viel weniger körperlichen Kontakt als früher. Das hat sicher auch mit meinem Alter zu tun und damit, ob ich die Gruppe kenne. Wenn zum Beispiel die Jungschar ein Geländespiel macht, bin ich voll dabei. Die kenne ich sehr gut. In Gruppen, die ich nicht kenne, spiele ich bei körperbetonten Spielen nicht mit. Das ist eine bewusste Entscheidung, die aus der Wildnis- und Erlebnispädagogik kommt. Bei einem Einstiegsspiel ist es entscheidend, ob sich die Gruppe kennt oder nicht.
Wie gehen Sie mit dem Machtgefälle zwischen Jugendarbeiter und Jugendlichen um?
PS: Macht bedeutet im positiven Sinn auch Möglichkeiten. Wenn man sich der Macht bewusst ist, ist man sich der Möglichkeiten bewusst. Ich frage immer: Was für Möglichkeiten kann ich den Jugendlichen eröffnen? Darin liegt aber auch eine Grenze. Ich verfüge nicht über die Jugendlichen. Und ich bin mir bewusst, dass ein Gefälle vorhanden ist, denn ich verfüge zum Beispiel über das Geld. Mein Grundsatz ist: Jugendarbeiter glänzen, wenn unsere Jungen glänzen und wenn ein Empowerment gelingt. Wenn die Jungschar glänzt, ist es nicht wegen des coolen Jugendarbeiters, sondern wegen den tollen Leitenden und wenn es gelingt, dass die Jungleiterinnen und Jungleiter aktiv selber bestimmen und Ideen einbringen. Da ereignet sich dann auch so etwas wie das Potenzial oder die Macht der Jugendlichen.
Pesche Schmid (36) ist Jugendarbeiter in der Kirchgemeinde Herzogenbuchsee. Er absolvierte eine Lehre als Elektriker. Nach zwei Berufsjahren und dem Militärdienst studierte er am Theologischen diakonischen Seminar in Aarau und wurde Sozialdiakon. Die Weiterbildung zum Wildnis- und Erlebnispädagogen an der CVJM-Hochschule in Kassel bezeichnet er als «genau mein Ding».
Die beste Theologie ist verschenkt, wenn sie nur jene erreicht, die bereits auf dem Weg sind. Es braucht in der Kirche und an ihrem Rand Menschen, die Nähe zulassen und Nähe suchen. Martin Dürr macht sich Gedanken, wie die Kirche Distanz überwinden kann und den Mut zum Tanzen findet.
Von Martin Dürr
Das Wort «Distanz» kommt, wie jede und jeder weiss, der oder die wie ich während der Schule öfter Wichtigeres zu tun hatte als aufzupassen, von «Dissen» und «Tanzen». Die Theolog*innen rufen begeistert: «Natürlich, so steht es auch geschrieben in Kohelet 3,4: Es gibt eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für das Dissen und eine Zeit für den Tanz.» Genau. Glauben Sie mir. Ich bin seit Jahren mit Konstanz eine Instanz voll Substanz zum Thema Distanz. Aufgewachsen in einem nüchtern protestantischen Haushalt durfte ich als Teenager nicht in einen Tanzkurs. Da drohte bei jedem Cha-Cha-Cha-Schritt ein erotischer Gedanke. Und wo das hinführt, weiss man ja. Das Nächste sind dann harte Drogen und, noch schlimmer, Rock-Musik.
Musikalisch verband mich mit meinem Vater (er war Kaufmann) nur die Verachtung für Ländler. Ansonsten hatte die göttliche Inspiration mit Johann Sebastian Bach angefangen und gleich wieder aufgehört. Vielleicht mit der Ausnahme von Louis Armstrong und, ausgerechnet, Udo Jürgens. An besonders ausgelassenen Tagen war das Jacques Loussier Trio («Play Bach») möglich, aber das ist einfach Bach für Hyperaktive. Ich huldigte dagegen heimlich Pink Floyd und Genesis. Drum gründete ich eine Schülerband, in der wir stundenlang auf a-Moll und e-Moll improvisierten. Wir waren nicht die beste Rock-Band der Seventies, aber definitiv eine der lautesten. Neben kleinen Auftritten im Freundeskreis schafften wir es immerhin zweimal an einer Schultheateraufführung als Begleitband und im Anschluss daran mit Konzerten vor einer ausverkauften Halle zu spielen. Während Sänger und Gitarrist sich vorne fast von der Bühne ins kreischende Publikum stürzten, sass ich an den Keyboards noch weiter hinten als der Schlagzeuger. Vorne ekstatischer Tanz, hinten unsichtbare Dis-Tanz. Wen wundert’s, dass ich danach über Umwege Pfarrer wurde? Da steht man zwar auch weit weg von der Gemeinde, aber wird immerhin wahrgenommen.
Sich von der Distanz distanzieren
Solche Dinge kamen mir kürzlich wieder in den Sinn (Achtung, Zeitsprung – es gibt eine Zeit zum Stehenbleiben und eine Zeit für den Sprung). Innert kurzer Zeit führte ich einen Taufgottesdienst und eine Hochzeit durch. Mir fiel auf, wie weit ich mich im Laufe der Jahre vom Dissen erholt und geradezu distanziert habe. Noch immer bin ich nicht der grosse Tänzer. Ich habe aber vor zwei Jahren immerhin einen ernst gemeinten Versuch unternommen. Die Kanzel habe ich schon länger eingetauscht gegen einen stabilen Notenständer. Je distanzierter die Menschen von der Kirche sind, desto näher will ich ihnen sein. Das ist 2020 natürlich wieder anders, aber allzu übertrieben weit weg geht nicht. Tanz lebt ja auch von Nähe und Loslassen, von Halten und Entfernen – es ist ein Spiel. Distanz hat wenig Spielerisches. Internetgottesdienste sind gut und recht und besser als gar nichts.
Die Hochzeit fand unter einem Dach und mit zwei Seitenwänden, aber draussen statt. Es war kühl – der Preis für die Frischluftzufuhr. Dann kann man halt nicht eine halbe Stunde predigen, sondern muss in sechs Minuten (so lange dauert ein Poetry Slam) sagen, was zu sagen ist. Die Menschen wollen innerlich erwärmt werden, sie wollen lächeln können, sie wollen weinen dürfen. Aus Freude oder aus Trauer. Wenn sie uns nicht berühren können und wir einander nicht umarmen sollen, dann müssen wir umso berührbarer und erreichbarer sein. Was, das geht nicht? Und ob das geht! Wenn ich jemanden aus kirchlichen Kreisen schimpfen höre über «social media», dann fällt mir eine Pfarrerin ein, mit der ich virtuell befreundet bin. Sie schreibt jeden Tag etwas Kurzes an ihre Leute. «Hallo, wie geht’s euch?» oder «E guets Dägli euch allne!». Und ich sehe, wie viele darauf reagieren. Der extensive Einsatz von Emojis ist nicht mein Ding, aber ich muss ja meinen eigenen Stil finden. Manchmal, grosse Überraschung, lesen Menschen sogar lange Texte – und reagieren darauf. Es muss nur persönlich sein.
Das Persönlichste ist das, was die meisten Menschen in irgendeiner Weise anrührt. Die beste Theologie ist verschenkt, wenn sie nur die erreicht, die bereits auf diesem Weg sind. Das ist keine Stimmungsmache gegen intensives Theologisieren – aber das hat seine Gefässe und sein Publikum. Um dieses Publikum mache ich mir keine Sorgen. Es braucht in der Kirche und am Rand der Kirche Menschen, die Nähe zulassen und Nähe suchen. Mehr denn je. Es braucht Mut zum Tanzen. Dissen braucht nicht viel Mut. Tönt zwar manchmal unglaublich stark, wenn man alles heruntermacht. Es ist in Wahrheit aber meist Schwäche. Die medizinisch notwendige Distanz müssen wir einhalten. Die menschliche Distanz, auch die Distanz zwischen Mensch und Gott, müssen wir überwinden. Das können wir, weil Gott die Distanz zu uns schon lange überwunden hat. Weil er uns einlädt zum Tanz.
Neuer Mut für neue Wege
Es braucht noch nie gedachte Gedanken, neuen Mut, neue Wege. Manchmal (nun kommt ein wenig der alte Disser zum Vorschein) habe ich den Eindruck, wir warten in unseren Kirchengebäuden mit unseren wunderbaren Angeboten und sind enttäuscht von den Menschen. Weil sie auf Distanz bleiben. Ein Video oder ein Stream aus einer kalten Kirche mit einem Kreuz im Hintergrund sendet auch die Botschaft: Hier ist alles beim Alten. Fürchtet euch nicht, siehe, wir halten Distanz zu euch. Schon eine Pfarrerin oder ein Katechet draussen, mit den Füssen im Herbstlaub ist die bessere Ausgangslage. Also raus aus dem Haus, raus aus der Distanz, rein in den Tanz. Ja, da geht auch einmal etwas schief. Da steht man jemandem unabsichtlich auf die Füsse. Da warten irgendwo auch Trolle, die nichts können ausser Dissen. Wenn wir uns dem nicht aussetzen: Wer dann? Darum, auf geht’s: Cha-Cha-Cha. Nicht mit dem Kopf, feel the beat! Irgendwann schaffe ich das.
Martin Dürr ist Pfarrer und Co-Leiter beim Pfarramt für Industrie und Wirtschaft Baselland und Baselstadt. Für die bzbasel schreibt er regelmässig Kolumnen. martin.duerr@pfarramt-wirtschaft.ch
Ob sie seinen Herzschlag trotzdem spüren kann?
Normalerweise, wenn ich eine Kolumne schreibe, dann geht das so: Thema fassen, Ideenmaschine anwerfen. Irgendwann, wenn es eigentlich gerade überhaupt nicht passt, einen Geistesblitz haben. Die Spiegeleier auf dem Herd anbrennen lassen. Dafür die ersten Sätze ins Notizprogramm getippt. Dieses Mal ging das nicht. Distanz. Vor einem Jahr hätte ich dabei an etwas komplett anderes gedacht. Vielleicht hätte ich eine Kolumne darüber geschrieben, wie sich Dinge aus der Distanz betrachtet klarer zeigen. Wie die Emotionen nachlassen. Und dafür einer beschwingten Zuversicht Platz machen, die einem ins Ohr flüstert, dass eigentlich alles gut ist.
Dieser Tage wird das Flüstern übertönt von den Sirenen, die von der Strasse herunter heulen. Von Rattern der Rettungshelikopter, die nachts unsichtbar durch den Hochnebel in Richtung Universitätsspital fliegen. Natürlich. In einer Stadt, da rattert und heult es. Doch ich frage mich, ob das jetzt noch in einem normalen Bereich ist. Aber was ist schon «normal» dieser Tage? Manchmal denke ich an ein Bild, dass ich in der Zeitung gesehen habe. Es zeigt eine alte Dame, die ihren Sohn umarmt. Sie, zart und gebückt. Er wie ein mächtiger Baum. Einige lichtsilberne Strähnen fallen über die Laschen des obligaten Mundschutzes, der ihr Gesicht bis unter die geschlossenen Augen bedeckt. Getrennt werden die beiden von einem dicken Schutzanzug aus Plastik. Wie muss das wohl sein? Ich frage mich, ob sie seinen Herzschlag trotzdem spüren kann. Die Wärme seiner Haut. Manchmal sind es zufällige Bilder, die zu Ikonen einer Zeit werden. Weil sie etwas sichtbar machen, dass uns bewegt. Und ich wünsche mir, dass die Mutter ihr Kind noch einmal richtig in den Arm nehmen kann.
Seraina Kobler ist 1982 in Locarno geboren. 2017 gründete Sie die Agentur Federa, wo sie als Autorin, Beraterin und Lektorin tätig ist. Seraina Kobler studierte Kommunikation und Literarisches Schreiben und arbeitete über mehrere Jahre als Redaktorin bei verschiedenen Zeitungen. Ihr erster Roman «Regenschatten» erschien im September 2020.
www.serainakobler.ch
Zwischen Kirche und Eisfeld
Meine erste Kirche war das Eisfeld. Schon früh bin ich in die Welt des Sports eingetaucht und machte meine Leidenschaft zum Beruf, indem ich Sportwissenschaft studierte und als Eislauftrainerin und Dozentin arbeitete.
Menschen zu begleiten, zu fördern und auf verschiedenen Ebenen für sie da zu sein, begeisterte mich. Doch es fiel mir schwer, dies unter dem Aspekt der Leistung und dem Konkurrenzdruck des Spitzensports zu tun. Ich empfand das Wettkampfsystem zunehmend als Einschränkung in meiner Arbeit mit Menschen.
Gespräche mit einer Pfarrerin weckten mein Interesse an Spiritualität und liessen mich die Kirche neu als Schutz- und Kraftort entdecken. Mein persönliches Interesse wurde rasch zu einem beruflichen. Ich realisierte, dass ich als Pfarrerin in einem anderen, freieren Rahmen und näher am Leben das tun könnte, was ich mir wünsche und was mir liegt: mit Menschen unterwegs sein, Übergänge des Lebens feiern, gemeinsam wachsen. Nicht nur in einer Disziplin, sondern ganzheitlich.
Ich freue mich sehr darauf, meine Persönlichkeit im Pfarrberuf einbringen zu können und meine Erfahrungen vom Eisfeld in das Leben ausserhalb der Sportwelt zu übertragen. Mein Traum wäre es, eine Gemeinde als Basis zu haben und von dort aus als «fliegende Seelsorgerin» auszuschwärmen. Ich will den Menschen dort begegnen, wo sie sind.
