Liebe Leser:innen
Ist das Adjektiv «künstlich» für Sie eher positiv oder eher negativ besetzt? Spontan tendiere ich zu einem negativen Urteil. Zugleich merke ich, dass der Gegensatz von «künstlich» und «natürlich» problematisch ist. Wie oft ist das Natürliche nur eine romantische Projektion. In einer Welt der Bilder sind Inszenierungen unausweichlich, und in unserer digitalen Welt ist «künstliche Intelligenz» schlicht eine Realität. Zudem steckt in «künstlich» ja das Wort «Kunst».
Lassen Sie sich überraschen von der Vielfalt der Beiträge dieses Hefts: über KI und Religion, über Inszenierungen im Tourismus, über körperliche Erfahrungswelten Jugendlicher und über die Lust am Rollenspiel bei Cosplay. Wir wünschen Ihnen eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit.
Bernd Berger, Leiter Weiterbildung pwb, Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn
Körperliche Erfahrungswelten Jugendlicher finden zum einen virtuell statt, zum andern steht die Selfie-Generation unter stetem Selbstoptimierungs- und -inszenierungsdruck. Der Körper wird zum zentralen Bezugspunkt bei der Suche nach Sinn und Identität.
Von Caroline Teschmer
Der Körper ist omnipräsent. Durch Social Media gehören Ideale von Schönheit, Schlankheit, Lifestyle und Fitness gegenwärtig zu den elementaren Bedingungen des Aufwachsens. Der Körper wird zu einer instrumentalisierten Baustelle in Fragen der Ernährung (z. B. Powerfood, vegetarische oder vegane Ernährung), der Körperinszenierung, der Körperoptimierung (ästhetische Chirurgie) sowie in Bezug auf die Messbarkeit von Körperdaten (Self-Tracking). Zum einen geht es dabei um ein intensives Körpererleben angesichts vielfältiger Identitätsverunsicherungen und zum anderen um eine stetige Modifizierung des juvenilen Körpers. Sichtbar werden körperbezogene Anwendungen, die gesellschaftliche wie auch individuelle Aufmerksamkeit gegenüber dem menschlichen Körper verdeutlichen. Gerade in der Phase der Adoleszenz dreht sich viel um die bewusste Gestaltung und Inszenierung des genormten Körpers: Heranwachsende träumen vom «perfekten» Körper.
Zur Entdeckung des Selbst
Die Frage «Wer bin ich?» oder «Wer möchte ich sein?» stellt die grundlegende Lebensfrage nach der eigenen Identität, dem Körper und dem Geschlecht dar. Heranwachsende sind einem erheblichen Aussendruck ausgesetzt. Orientierung an Stereotypen und Klischees, Rollenvorhaben und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen betreffen massgeblich die Konstruktion. Im stetig wachsenden Gesundheitsbewusstsein, wie es sich etwa bei der Fitness und im Lifestyle zeigt, wird deutlich, dass der Körper zum zentralen Bezugspunkt bei der Suche nach Sinn und Identität wird.
Einerseits leben Jugendliche als «Digital Natives» in virtuellen und damit in körperlosen Welten, andererseits stehen sie als «Selfie-Generation» unter dem ständigen Druck einer körperlichen Selbstoptimierung und -inszenierung. Der Wunsch nach Selbstoptimierung besetzt dabei das Selbst(wert)gefühl mit dem Ideal der Perfektion, dem der disponierte, begrenzte und vergängliche Körper nicht genügen kann.
Anerkennung und körperliche (Selbst-)Akzeptanz
Das Smartphone wird zum Spiegel und das Foto nur verbreitet, wenn sich eine temporäre Zufriedenheit einstellt. Mittels des Selfies erfolgt eine «Spiegelung des Selbst». Diese Spiegelung zeigt sich nicht nur auf dem Bildschirm, sondern gleichsam in den Reaktionen, die durch die sozialen Medien sichtbar werden. Selfies sind die Abbildung gängiger Selbstbilder. Als solche bleibt die Spiegelung immanent und verweist auf die selbstreflektierte Dimension des «Ich bin mir ebenbildlich», womit eine körperorientierte Fokussierung einhergeht. Selfies stellen idealisierte Selbstbilder dar und bieten Anlass, darüber nachzudenken, wie man sich selbst sieht und wie andere einen sehen. Das Feedback durch Likes und die Anerkennung durch andere ist für Jugendliche bedeutsam. In der Folge ist das Bemühen um Anerkennung an die körperliche Praxis gebunden und geht mit Selbstbestimmung einher.
Selbstbestimmung wiederum bedeutet, über den eigenen Körper verfügen zu können. Die Wahrnehmung changiert dabei zwischen der Entdeckung des gegebenen Körpers und der Suche nach einem Körper jenseits der gegebenen Natur. Beide Pole beschreiben eine Praxis der Selbstermächtigung mit dem Ziel der Anerkennung. Der instrumentalisierte Körper bestimmt vor allem die Lebensphase Jugend in hohem Masse. Er reift sexuell, verändert sich stetig, eilt dem Selbstbild beständig voraus und wird in gestaltbarer Plastizität zum Spiegel sich entwickelnder Persönlichkeit. In wachsender Autonomie und kritischer Selbstreflexivität lernen Heranwachsende, ihren «'Körper zu bewohnen'» (Helmut Fend).
Körperlichkeit in Religionspädagogik und Jugendarbeit
Das Thema «Körperlichkeit» stellt explizit sowie implizit einen Gegenstand der kirchlichen Jugendarbeit dar. Religion wird am und mit dem Körper wahrgenommenw und erlebt. Denn Religion zu praktizieren heisst auch, körperlich zu agieren (z. B. Gebetshaltungen, Tanz, Meditation, Segen, Abendmahl, Taufe). Übungen der Körperhaltung, Körperwahrnehmung und die Begegnung mit liturgischen Elementen und biblischen Texten tragen damit theologische und anthropologische Bedeutung in sich und können für die kirchliche Jugendarbeit zugänglich gemacht werden.
Auch in der Poimenik spielt Körperlichkeit eine wichtige Rolle, da der Körper immer mitkommuniziert. Jugendlichen geht es um ein körperliches Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden, verbunden mit der Sensibilität für die eigene und fremde Körpersprache, sowie um einen Umgang mit dem eigenen Körper. Körperliches Selbstdesign kann zum Thema gemacht werden: Kirchliche Jugendarbeit kann dies hinterfragen, die gesellschaftlichen Erwartungen an die körperliche Selbstoptimierung auffangen und reflektieren. Den Körper explizit zum Thema machen, Möglichkeiten und Grenzen seiner Entwicklung aufzeigen.
Jugendliche begleiten
Körper-Bildung sensibilisiert Jugendliche so für Körpererkundungen, sodass Selbst- und Körperbilder einen Ausdruck finden und mit anthropologischen, religiösen und ethischen Fragen verknüpft werden können. Diese Fragen haben explizit etwas mit den Jugendlichen selbst zu tun, sodass Such- und Reflexionsprozesse entstehen. Pfarrer:innen können u. a. dabei zu Begleiter:innen werden. Die ständigen und über den Zeitraum der Adoleszenz andauernden körperlichen Veränderungen der Heranwachsenden führen oftmals zu Verunsicherung und gehen mit Empfindungen wie Angst oder Unzufriedenheit einher. Hier kann die Jugendarbeit den Körper zum Thema machen, insofern Körperempfindungen reflektiert werden. Jugendliche sind permanent mit visuellen Körperdarstellungen konfrontiert, mit denen sie sich bewusst, unbewusst, zufällig oder gezielt, kurz- oder langfristig beschäftigen. Körper sind in ihrer Vielfalt immer präsent.
PD Dr. Caroline Teschmer ist aktuell Vertretungsprofessorin für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Duisburg/Essen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Körperlichkeit, Gender; Sexual- und Familienethik; Werte-
Bildung; Konfessionellkooperatives Lernen und ethische Bildung.
caroline.teschmer@uni-due.de
Raphaela Portmann ist Journalistin. In Ihrer Freizeit schneidert sie Kostüme für ihre Passion: Cosplay. Das Magazin hat die Baslerin besucht. Eine Verwandlungskünstlerin über die Frage, ob Cosplay eine Flucht ist und wann sie ihre Nähmaschine mit Schlägen traktiert.
Von Barbara Schlunegger
Als der Bus hält, steht sie schon an der Haltestelle und wartet auf mich. So sieht also eine Cosplayerin ohne Kostüm und Schminke aus: blonde, gewellte Haare, grüne Augen, modisch gekleidet. Hinter einer markanten Brille ein interessierter, wacher Blick. Ehrlich gesagt habe ich mir eine nerdigere Erscheinung vorgestellt. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass vorgefertigte Meinungen über ein spezielles Hobby über den Haufen geworfen werden.
Einfach beginnen!
Raphaela Portmann ist 30 Jahre alt und von Montag bis Freitag als Journalistin tätig. Ihre Freizeit widmet sie dem Cosplay. Dann verwandelt sie sich in feenhafte und furchteinflössende Figuren: Grüne Perücke, künstliche Elfenohren, ein mit Blumen behängter Wanderstab sind ihre Attribute. Der Begriff «Cosplay» setzt sich zusammen aus «Costume» und «Play», zu Deutsch «Kostümspiel». Dabei schlüpfen Menschen in fiktive Rollen aus Mangas, Comics oder Videospielen und treffen sich so verkleidet an Cosplay-Events, sogenannten «Conventions». Hier wird bereits die erste Korrektur fällig: Es sei nicht so, dass sie im echten Leben eine Person sei und im Cosplay eine andere, so die Baslerin, und erzählt selbstironisch weiter: «Mir ist bewusst, dass ich keine grosse Kriegerin bin, nur weil ich ein selbstgebasteltes Schwert bei mir trage.»
Die Cosplayerin wohnt zusammen mit ihrem Verlobten in einem Basler Hochhaus. Bereits im Eingang steht eine Puppe, die ein geschneidertes Meisterwerk am Körper trägt. Verschiedenste geometrische Formen sind aus Baumwollstoff ausgeschnitten und liebevoll von Hand bemalt worden; der halb aufgestellte Kragen aus buntem Stoff hebt sich vom Rest des ausladenden Kostüms ab. Mehrere Schichten aus verschiedenen Stoffen und Materialien sind übereinander genäht. Ich staune und frage sie, wo sie das Schneiderhandwerk gelernt habe. Portmann lacht, zuckt mit den Schultern und antwortet: «Nirgends. Der Trick ist, dass man einfach beginnt.» Sie erzählt von ihrem allerersten Kostüm, bei dem sie keine brauchbaren Materialien hatte – weder Schnittmuster noch richtigen Stoff. «Ich begann mit einer Filzmatte und Glitzersteinen vom Baumarkt», so die Autodidaktin. 2022 wurde sie für ihr Kunsthandwerk ausgezeichnet. Wir sitzen am Esstisch. Der Blick wandert über die Siedlung und angrenzende Schrebergärten.
Konfrontiert mit eigenen Grenzen
Raphaela Portmann kommt aus einer Künstler- resp. Regisseurenfamilie, hatte schon als Kind Theater gespielt und ist so früh mit Kreativität und Kunst in Berührung gekommen. «Ich war schon immer etwas nerdig, hatte eine Vorliebe für Comics», sagt sie und nimmt einen Schluck Wasser. Vor acht Jahren, als sie sich durch japanische Manga-Hefte für Cosplay zu interessieren begann, fand auch das erste Mal die Fantasy Basel statt, die grösste nationale Messe für Fantasy und Cosplay. Portmann konnte eine Gruppe begleiten und fand so nach und nach Anschluss in der Szene.
Auf die Frage, was denn die Faszination am Cosplay sei, lacht die Baslerin auf und sagt: «Drei Wochen vor der Convention frage ich mich das jeweils auch und haue auf meine Nähmaschine!» Im Ernst: Einerseits habe sie Fantasie und Ideen, die «einfach ausgelebt werden müssen», da sich die Künstlerin sonst nicht wohlfühle. Für sie bestehe die Faszination aus der Kombination von Handwerk und Kreativem. Es sei in Ordnung, dass wir im Alltag alle extrem konform seien. «Aber irgendwo ausprobieren können, wie ich aussehen würde, wenn ich keine Limitierungen hätte, wer ich sonst noch sein könnte, ist mir wichtig», führt sie aus. Ob es auch eine Flucht sei, frage ich. Das würden viele denken, bestätigt Portmann. Einige aus der Szene würden diese Annahme vielleicht bejahen, aber für sie fühle es sich nicht mehr als Flucht an als jedes andere Hobby auch. Die Cosplayerin überlegt und sagt dann, dass es nicht so sei, dass sie mit ihrem Leben nicht zufrieden wäre und in ihrem Hobby etwas kompensieren müsste. Es sei auch nicht der Fall, dass innerlich ein Schalter umgelegt werde, wenn sie ein Kostüm anzieht. Im Gegenteil: Sie werde eher mit ihren eigenen Grenzen, Ängsten und Schamgefühlen konfrontiert. Als Beispiel nennt sie den Weg zu einer Convention. Den legt sie mit Bus und Zug zurück. «Ich steige also in meinem Kostüm in den Bus und hoffe, dass mich niemand sieht. Da sitze ich dann, ‘little old me’, mit einer Monsterperücke auf dem Kopf und schäme mich etwas, weil alle gucken.»
Cosplay ist nicht Fasnacht
Unterdessen seien die Leute besser mit dem Fakt vertraut, dass es Menschen gibt, die sich gerne verkleiden. Immer wieder würde Cosplay aber mit der Fasnacht verwechselt: «Hier in Basel kommen Leute auf mich zu: 'Oh, hast du schon Fasnacht?'», erzählt Portmann. An einer Convention fänden das alle normal und dann sei es auch kein Stress mehr. Ob sie an diesen Treffen dann auch mit der Stimme und Gestik ihren Charakter imitieren würde? Darauf die Journalistin: «Ich stelle einen Charakter dar, ich spiele ihn nicht. Ich spreche immer noch mit meiner eigenen Stimme und mache keine fremden Gesten.» Eine Ausnahme seien Shootings: Da sei es nötig, dass sie böse schaue, weil ihr Charakter so dreinblickt. Wir sprechen auch noch über die Frage, nach welchen Kriterien Portmann ihre Figuren, die sie darstellt, aussucht. Bestimmt seien es Charaktere, mit denen sie sich innerlich identifizieren könne. Auch hier zeigt sich die unverfälschte und zuweilen nüchterne Art der 30-Jährigen: «Mir ist das Ästhetische und das Optische sehr wichtig, das hat für mich nichts mit innerer Identifikation zu tun.» Wenn sie so lange an einem Kostüm arbeitet, müsse es ihr optisch richtig gut gefallen. Verständlich, wenn man bedenkt, dass die Kunsthandwerkerin gut und gerne bis zu 300 Stunden in die Herstellung eines Kostüms investiert. Sechs Monate vor einer Convention beginnt sie mit einem neuen Projekt. Am Tag des Events benötigt sie drei bis vier Stunden für das Schminken und Anziehen des Kostüms.
Was sind Cosplayer für Menschen? Die Journalistin kann nicht für die gesamte Community sprechen. Sie hat aber beobachtet, dass sich bestimmte Lebensgeschichten in der Szene wiederholen: «Häufig sind es Personen, die in ihrer Biografie schon früh aus der Norm gefallen sind, weil sie anders gestrickt sind.» Im Cosplay hätten jene eine Möglichkeit gefunden, diese Aussenseiterrolle bewusst zu ergreifen und zu ihrem Eigenen zu machen: «Wenn die Welt uns schon als Aussenseiter sieht, dann glitzern wir immerhin dabei.»
Raphaela Portmann studierte Germanistik und Geschichte und arbeitet heute als Journalistin bei der Basler Zeitung. Ihre Freizeit widmet sie dem Cosplay und investiert viel Zeit in die Herstellung ihrer Figuren. 2022 wurde sie an der Fantasy-Messe Basel in der Kategorie «bestes Handwerk» ausgezeichnet.
ela.portmann@hotmail.com
Instagram: @aglaiacosplay
Wie beeinflussen generative Sprachmodelle wie ChatGPT spirituelle Erfahrungen? Beth Singler wirft Fragen zur Rolle religiöser Institutionen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz auf.
Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Alle, die generative Sprachmodelle wie ChatGPT ausprobieren, verstehen, dass sie unser Arbeiten – auch in der Kirche – verändern werden. Wie gross ist die Transformation, die bevorsteht?
Beth Singler (BS): Ich bin vorsichtig, in den allgemeinen Hype einzustimmen. Dennoch glaube ich, dass generative Sprachmodelle eine bedeutende Veränderung in unserer Beziehung zur Künstlichen Intelligenz (KI) darstellen. Bisher waren viele Anwendungen von KI im unsichtbaren Bereich der Automatisierung angesiedelt. Mit ChatGPT kann nun die Allgemeinheit damit experimentieren. Es ist wie ein glänzendes Spielzeug. Sprachmodelle sind also ein sichtbarerer Einsatz von KI, der sowohl emotionale als auch erkenntnistheoretische Arbeit auf eine neue Art und Weise ermöglicht. Jetzt können die Menschen KI nutzen, um Wissen, Arbeit und emotionale Arbeit zu erledigen. Es ist auch ein sehr persönliches Werkzeug, denn man kann mit ChatGPT auch ein Gespräch führen. So sehen Menschen in Sprachmodellen ein persönliches Element.
Damit erhalten generative Sprachmodelle «gott»-ähnliche Qualität. Haben sie das Potenzial, die religiöse Praxis von Menschen zu verändern oder sogar zu verbessern?
BS: Es gibt bereits Menschen, die ChatGPT nutzen, um ihre eigene Spiritualität zu erforschen oder um darüber nachzudenken, wie die Zukunft der Religion aussehen könnte. Man kann ChatGPT bitten, eine neue Religion zu erschaffen. Dann gibt es auch Leute, die aus etablierteren Religionen kommen und die Technologie nutzen, um ihre bestehende Lehre zu erforschen. Wir haben bereits Versionen von ChatGPT, die auf religiöse Texte trainiert wurden: GitaGPT oder JesusGPT. Sie können dort mit Figuren aus der religiösen Tradition – Jesus, Arjuna oder Vishnu – ein Gespräch führen. Menschen experimentieren damit, um spirituelle Momente zu erleben. Schliesslich gibt es die eher implizite religiöse Dimension, die sich aus der Interaktion der Menschen mit künstlicher Intelligenz ergeben. Denn die scheinbare Allwissenheit und Allmacht der Sprachmodelle führen dazu, sie als gottähnliche Entität zu betrachten. Es werden religiöse Metaphern verwendet, um über KI zu sprechen.
Bezüglich KI wogt die Debatte zwischen Hoffnung auf verbesserte Qualität menschlicher Arbeit und Furcht vor apokalyptischen Szenarien hin und her. Wie sehen Sie das in Bezug auf die Religion?
BS: Als Anthropologin beobachte ich in den Religionen eine Kombination aus beidem. Es gibt ein gewisses Mass an Aufregung über die Anwendung von KI in religiösen Bereichen. So experimentieren Menschen mit Predigten von ChatGPT, wie auf dem Kirchentag in Nürnberg. Man versucht herauszufinden, was alles möglich ist. Und dann gibt es natürlich auch Angst und Befürchtungen. Viele Menschen wissen nicht, ob sie hoffnungsvoll oder ängstlich sein sollen, weil sie nicht genügend Informationen haben. Ich denke, dass die Religionen ihren Mitgliedern helfen müssen zu verstehen, was diese Technologie tatsächlich ist, was sie bewirkt, wo die tatsächlichen Schäden und Risiken durch KI liegen.
Eine Voraussetzung dafür wäre, dass die entsprechenden Kompetenzen in den religiösen Institutionen vorhanden sind.
BS: Ganz genau. Ich sehe das bei Workshops, die ich für Leitende vieler Religionen gegeben habe. Da haben wir Experten für KI hinzugezogen, um einen grundlegenden Überblick darüber zu geben, was passiert. Es gibt aber auch religiöse Leitungsfiguren, die ohne vertiefte Kompetenz über KI sprechen. Oft möchten sie über die grossen philosophischen und theologischen Fragen sprechen. Aber das führt dazu, dass sie dabei keine Sicht zu den unmittelbaren Auswirkungen der KI auf das Leben der Menschen entwickeln. Das ist etwas, das man im Auge behalten muss, denn die Diskussion kann sehr schnell in diese spekulativen Bereiche abgleiten, in die Vorstellung, dass KI allmächtig und gefährlich ist, obwohl sie eigentlich nicht allmächtig sein muss, um gefährlich zu sein.
Könnte Theologie und Kirche dennoch aus ihren Ressourcen einen gesellschaftlichen Beitrag leisten, um mit KI künftig reflektiert umzugehen?
BS: Ja. Religionen haben schon immer darüber nachgedacht, was es bedeutet, Mensch zu sein. Diese Überlegungen könnten zunehmend wertvoll werden, wenn die Menschen ihren Platz in der Welt durch KI in Frage gestellt sehen. Einen Beitrag könnten Kirchen leisten zur Frage nach der Zukunft der Arbeit und der Ungleichheit, die durch KI entstehen wird. Ich denke, dass religiöse Institutionen sich auch klar äussern sollten zum Diebstahl von geistigem Eigentum, der in der Entstehung dieser Sprachmodelle geschieht. Im Moment sieht es eher so aus, als würden sie diese Sprachmodelle unkritisch verwenden.
Ohne diese kritische Diskussion beiseitezuschieben: Können Chatbots in Zukunftsszenarien auch das kirchliche Handeln unterstützen – zum Beispiel in der Erwachsenenbildung oder in der Seelsorge?
BS: Das sind keine Zukunftsszenarien, denn es gibt bereits Technologien, die das können und die eingesetzt werden. Dabei zeigt sich, dass durch den Einsatz der KI auch Fehlinformationen oder Desinformationen entstehen können, zum Beispiel durch eine Voreingenommenheit innerhalb des Systems, die Menschen zu einer bestimmten Sichtweise verleitet. Wir müssen uns also Gedanken über die Informationen machen, die durch diese generativen Sprachmodelle weitergegeben werden. Die Entwicklung neuer religiöser Innovationen und Ideen wird deshalb kaum spannungsfrei ablaufen.
Das Gespräch wurde auf Englisch geführt. Transkription mit otter.ai. Übersetzung und Redaktion: Thomas Schaufelberger mit Hilfe von deepl.com
Prof. Dr. Beth Singler ist Assistenzprofessorin für Digital Religion(s) an der Universität Zürich. In ihrer Forschung untersucht sie die sozialen, ethischen, philosophischen und religiösen Auswirkungen der Fortschritte in der künstlichen Intelligenz und der Robotik. 2021 wurde sie mit dem Digital Religion Research Award ausgezeichnet.
beth.singler@uzh.ch
Mit der Agentur «gutundgut» entwickeln und realisieren Rafael Enzler und sein Team Tourismusprojekte im In- und Ausland. Sie legen Wert auf Nachhaltigkeit, Teilhabe aller Akteur:innen und Ganzheitlichkeit. Dabei agieren sie im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftlichkeit und «heiler Welt».
Von Juliane Hartmann
Juliane Hartmann: Rafael Enzler, auf was achtet ihr bei der Entwicklung eurer Tourismusprojekte und werdet ihr bei eurer Arbeit auch mit den Themen «künstlich» und «echt» konfrontiert?
Rafael Enzler (RE) In unserer Arbeit unterstützen wir lokale Akteur:innen dabei, selbst ein Produkt zu entwickeln. Uns ist wichtig, dass ihr Projekt zu ihrem Ort passt. Mit einem interdisziplinären Team definieren wir mit den Leuten vor Ort den Inhalt und suchen Formen, um die lokale Geschichte umzusetzen. Ziel ist, dass der Ort sozial, wirtschaftlich und ökologisch funktioniert. Tatsächlich ist es dann so, dass die Menschen vor Ort oft anders leben, als man sich das vorstellt, wenn man am Wochenende in die Berge fährt. So treffen genau da künstlich und echt aufeinander.
Das Bergell ist ein gutes Beispiel. Dort leben die Kastanienbauern von ihren Kastanien: sie hegen die Bäume, sammeln die Kastanien und verarbeiten sie. In Workshops mit ihnen wurde klar, dass sie Wirtschaftlichkeit brauchen, um die Maroni zu bewirtschaften. Darum blasen sie nun mit dem Laubbläser das Laub weg, um dann die Maroni aufzulesen. Die Besucher:innen würden hingegen viel lieber sehen, wie die Bauern die Maroni von Hand zwischen den Blättern herausklauben. Zum Transport sähen geflochtene Körbe auf dem Rücken auch authentischer aus als die Plastikbehälter, die sie jetzt benutzen und die viel praktischer sind.
Thematisiert ihr diese Widersprüchlichkeit dann auch explizit? Zum Beispiel mit den Kastanienbauern?
RE: Entscheidend ist, dass die Menschen, die etwas anbieten, mit einem guten Gefühl dahinterstehen. Diese Spannung betrifft auch den Banker, der am Wochenende an Hardrock- Konzerte geht und sich dafür entsprechend kleidet. Auch da stellt sich die Frage: Kleidet er sich künstlich oder begibt er sich in einen anderen Kontext?
Es braucht immer Ehrlichkeit. Ich würde niemandem empfehlen, etwas zu machen, das ihm zuwiderläuft. Das funktioniert nicht, und ein Gast spürt das sofort.
Wie, wenn jemand im Service ein Dirndl oder eine Tracht anziehen muss?
RE: Dabei ist auch wichtig, wieweit man kulturell entfernt ist. Vor Jahren habe ich als Tourismusdirektor im Toggenburg auf der Schwäg-alp einen TV-Auftritt mitorgansiert. Es hagelte Kritik, weil die Tracht einen Knopf mehr oder weniger hatte, das seien nicht die echten Trachten gewesen.
Die Menschen, die ins Bergell kommen, suchen auch nach Echtheit. Was steckt hinter dieser Sehnsucht nach Echtheit und der Ablehnung von Künstlichkeit?
RE: In diesem Fall ist es weniger Echtheit, sondern eine Frage von Romantik. Ich möchte bestätigt bekommen, dass die Welt zumindest hier noch in Ordnung ist: nah bei der Natur, ihr ausgesetzt, und Menschen sollen mit ihr umgehen können. Doch dieses vorgestellte Leben hat tatsächlich noch nie so existiert.
Nachhaltigkeit ist ein wichtiger Wert in eurer Tourismusentwicklung. Gibt es einen Zusammenhang mit Echtheit und Künstlichkeit?
RE: Absolut lässt sich das nicht beantworten. Es gibt auch gelebtes Brauchtum, das nicht für den organisierten Tourismus zugänglich gemacht wird. Wenn erst am Vorabend entschieden wird, wann Alpauf- oder abzug ist, oder auch beim Chalandamarz. Es ist nachhaltig, diese echten Traditionen zu respektieren. Wer da ist, ist willkommen. Doch es ist nicht alles darauf ausgerichtet, Tourist:innen anzuziehen. Wirtschaftlich könnte dies zwar interessant sein, doch es untergräbt die sozialen Strukturen, die wichtig sind, damit ein Ort funktioniert.
Künstlich – könnte das auch kunstvoll und gestaltet sein?
RE: Aus touristischer Sicht sind Disneyland oder Europapark spannende Phänomene. Sie werden als echt und nicht als künstlich erlebt, sogar in sich authentisch. Es gibt wohl so etwas wie eine Balance zwischen den beiden Begriffen. Ist ein thailändisches Restaurant in Zürich echt oder künstlich? Und wie unterscheidet sich die Antwort auf die Frage, wenn das Restaurant in Grindelwald steht?
Ihr arbeitet auch in anderen Ländern, wie in Georgien, Albanien. Haben Menschen dort ein ähnliches Sensorium in Bezug auf künstlich oder echt?
RE: In Albanien zum Beispiel lässt man halbfertige Bauten stehen. Uns stört das. Dort gehört es einfach dazu. So wie authentische italienische Restaurants in Italien oft das beste Essen haben, zugleich aber ein Neonlicht, das weit entfernt ist von der Romantik, die wir zelebrieren. Eigentlich gehören genau diese Elemente, die uns fremd sind, dazu und zusammen gibt es ein Ganzes.
Welche anderen Themen aus dem Bereich Tourismus findest du in diesem Zusammenhang noch wichtig?
RE: Auf jeden Fall den Trend zur Inszenierung, auch wenn wir da eher zurückhaltend sind. Der Kastanienweg im Bergell braucht zum Weg noch Posten, eine Geschichte, und man stellt Figuren in die Landschaft. Die Natur als Natur stehen lassen funktioniert dann nicht mehr, denn Menschen brauchen konstant eine externe Aktivierung. Die Animation am Wegrand übernimmt das, was Eltern ihren Kindern mit Fantasie erzählen könnten. Die Inszenierung ist gefragt und zugleich ist sie künstlich, man versucht, herauszuschälen, was verborgen liegt. Es ist ähnlich wie eine Vermittlung im Museum – dabei wäre es schön, wenn mehr Menschen zu Vermittlern würden und es nicht immer eine externe Instanz bräuchte. Das gäbe eine andere Qualität und eine unmittelbare Tiefe des Erlebens.
Wir sind auch nicht immer konsequent in unserer Haltung. Gerade haben wir einen Achtsamkeitstrail im Seetal eröffnet. Mit dem E-Bike fährt man zu den Posten, dort kann man zum Beispiel Steinmannli bauen und sich dazu etwas überlegen. Die gleichen Steinmannli könnte man auch sonst bauen – ganz ohne Achtsamkeitstrail. Doch so kann die Region die Leute zu sich holen, dies ist auch eine wirtschaftliche Motivation.
Wie ist das eigentlich mit den Souvenirs?
RE: Die Läden für Souvenirs gleichen sich auf der ganzen Welt. So scheint es ein Bedürfnis zu sein, die immer gleichen, künstlichen Magnetbilder mit dem Namen des Ortes drauf zu kaufen, auch wenn sie wahrscheinlich alle in der gleichen Fabrik in China hergestellt werden. Doch das gefällt den Menschen.
Es ist offensichtlich: Nicht alle haben die gleiche Sensibilität für dieses Thema: Wo fängt Kitsch an? Das beantworten viele Menschen unterschiedlich.
Rafael Enzler, lic. Oec. HSG ist Touristiker, Stratege und Vernetzer. Mit seiner Agentur «gutundgut» entwickeln und realisieren sie Projekte für Tourismus, Freizeit und Kultur im In- und Ausland. Neben Tourismusprojekten hat gutundgut auf dem Areal der ehemaligen Spielzeugfabrik Wisa Gloria in Lenzburg einen Coworking Space nach den Grundsätzen der Kreislaufwirtschaft realisiert.
rafael.enzler@gutundgut.ch
www.gutundgut.ch
«künstlich»
Es ist so schwierig geworden, den Glauben nicht zu verlieren.
Nicht den Glauben an Gott. Dass wir uns richtig verstehen: Ich bewundere Menschen, die diesen noch aufbringen können. Nein. Ich meine den Glauben an die Menschheit. Den Glauben an die Welt und daran, dass es überhaupt noch Ereignisse geben kann, bei denen wir etwas fühlen. Echten Schmerz. Empathie. Manchmal wäre ich schon mit Hunger zufrieden.
Fett sind wir geworden. Fett und abgestumpft. Ein Wahljahr, in dem die SVP Neonazis im Bundeshaus empfängt? Schulterzucken. Wladimir Putin lässt mit Atombomben üben? Meh. Hamas und Israel schlachten gegenseitig Kinder und Frauen ab? Wenn schon Sequels, dann doch lieber im Kino. Nichts dringt mehr durch unser dickes Fell. Eine Welt voller Bildschirme, auf denen nichts ausser Social Media läuft und keine einzige menschliche Reaktion mehr. Ein Planet voll mit Multipler Sklerose und Fatigue Syndrom.
Kein Wunder: Wir wissen doch längst nicht mehr, was echt ist und was nicht. Fake News, kenianische Prinzen, Pornospambots und künstliche Intelligenz haben unsere Fähigkeit, Gefahren und Liebe zu erkennen, so weit abgeschliffen, dass unsere Fingerkuppen und Nervenbündel glatter sind als ein Spiegel. Ein totes Kind am Strand des Mittelmeers? Bestimmt nur ein KI-generiertes Video. Donald Trump wieder im Weissen Haus? Ach, beim ersten Mal tat's noch weh … Und überhaupt: Wie sollen wir wissen, ob Tränen echt sind, wenn sie nicht im Einfangswinkel einer Kamera vergossen werden?
Menschen in der Palliativpflege erzählen mir, dass sich angesichts des nahenden Endes häufig eine Klarheit einstellt. Das wäre immerhin ein gutes Zeichen für die Menschheit, die mitten im «Age of Stupid», im Zeitalter des Blöd, steckt. Aber was mich umtreibt, ist eben nicht die Angst vor dem Ende, sondern jene vor einem vergeudeten Leben.
Etrit Hasler, Autor und Slam Poet, gehört zu den Pionieren der Schweizer und der deutschsprachigen Slam-Poetry-Szene. Der boshaft-charmante Schnellsprecher schafft auf der Bühne bis 270 Wörter pro Minute. Daneben ist der St. Galler Moderator, Autor und Journalist seit 2020 Geschäftsführer des Dachverbands Suisseculture Sociale.
Ein Ja zur Vielfalt
Ich komme aus New York und bin als junger Musiker in die Schweiz gekommen, um an der renommierten Schola Cantorum Basiliensis zu studieren. Inzwischen ist Basel meine Heimat geworden.
Als Musiker spiele ich oft in Kirchen und habe dadurch die reformierte Tradition kennengelernt. Religion habe ich als Sohn eines russisch-orthodoxen Priesters mit der Muttermilch aufgesogen. Die hierarchischen Strukturen in der Orthodoxie haben mich aber von ihr entfremdet. Fünfzehn Jahre lang hielt ich die Religion auf Abstand. Bis ich in der Schweiz eine Kirche kennenlernte, in der ich Gemeinschaft erlebte und innerlichen wachsen konnte. Ich diskutierte mit anderen über Bibeltexte und fand Zugang zur christlichen Meditation.
Beruflich fehlte es mir in dieser Zeit an Perspektiven. Als ich über eine Werbung für den Quereinstieg ins Theologiestudium stolperte, dachte ich: Wenn du nicht mehr Musiker sein möchtest, wirst du Pfarrer! Die Zweifel waren gross. Gibt es in der Kirche Platz für mich, einen schwulen Mann und Ausländer, in einer Tradition, die so stark auf das Wort fixiert ist? Zwei Jahre später wagte ich den Schritt ins Theologiestudium.
Für mich bedeutet das Label «reformiert» die starke Verwurzelung der Gemeinde vor Ort und ein Ja zur Vielfalt. Kirche soll so vielfältig sein, wie es die Menschen sind, und enge Weltbilder aufsprengen. Ich hoffe, dass ich durch meine Person einen Beitrag dazu leisten kann.
Foto: Peter Hauser