Liebe Leserinnen, liebe Leser
Nichts ist für ewig. Dinge und Projekte können weiterentwickelt oder beendet werden.
Jonas Goebel hat sich diese Vorläufigkeit zur Strategie gemacht. Er richtet die Angebote in seiner Kirchgemeinde nach Netflix-Manier in Staffeln aus und trifft damit den Zeitgeist. Temporäres geht auch für Pfarrstellen: Susanna Klöti hat ihre ersten Berufsjahre auf befristeten Stellen verbracht und so ihre Berufswünsche ergründet. Vieles scheint in der Kirche für die Ewigkeit gemacht, schreibt Michael Schüssler. Die Zerbrechlichkeit des Ewigen zwinge aber auch, das Vorläufige wertzuschätzen. Auch das Design lebt von der Denkweise des Vorläufigen. Stefano Vanotti begleitet Organisationen in ihren Transformationsvorhaben und arbeitet dabei mit Prototyping. Vorläufig viel Inspiration beim Lesen!
Esther Derendinger,
Bildungsentwicklung und Kommunikation, A+W
Sich langfristig zu verpflichten, fällt Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend schwer. Jonas Goebel, Blogger und Pastor, sieht darin eine Chance für die Kirche: Statt lebenslange Mitgliedschaft zu erwarten, soll sie die Freiheit der Vorläufigkeit feiern.
Von Sara Stöcklin-Kaldewey
«Ich mache auch keinen lebenslangen Vertrag beim Fitness-Studio», sagt Jonas Goebel. Dass sich Menschen ungerne langfristig verpflichten, ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Es erfordert neue Angebote und Formen der Mitgliedschaft in der Kirche, findet der 32-jährige Pastor der lutherischen Kirche in Hamburg-Lohbrügge. Er hat sich einen Namen gemacht als «Netflix-Pfarrer», der die Vorläufigkeit als Strategie der Kirche einsetzt und feiert. Was in seiner Kirchgemeinde angeboten wird, kommt im Serienformat daher. Begrenzt auf eine Staffel, aber mit der Option auf Verlängerung.
Jonas Goebel, der seiner Mailsignatur den Hashtag #gernperDu voranstellt und neue Ideen mit den Leserinnen seines Blogs bespricht, wollte eigentlich kein Berufschrist werden. Er kommt aus keiner besonders religiösen Familie, sondern hat durch die Jugendarbeit seiner Heimatgemeinde Zugang zum Glauben gefunden. Als er merkte, dass sich Gott aus seinem Berufsleben nicht wegdenken liess, entschied er sich doch für das Theologiestudium. Sein erster Einsatzort als Pastor wurde ihm zugeteilt. «Mein Chef sagte: Da kannste hingehen und nix kaputt machen.» Das kirchliche Leben in der Gemeinde am Stadtrand von Hamburg war weitgehend eingeschlafen, sowohl die Gebäude als auch die Freiwilligen waren «in die Jahre gekommen», nachdem Jonas Vorgänger vierzig Jahre lang dort geamtet hatte.
«Netflixisierung» des kirchlichen Angebots
Um Verschiedenes ausprobieren zu können, mehr Menschen zu erreichen, aber auch die begrenzten Ressourcen des Teams sinnvoll zu nutzen, setzt Jonas Goebel seit seinem Stellenantritt vor zweieinhalb Jahren auf die «Netflixisierung» des kirchlichen Angebots. «Wir bieten nicht alles immer an.» Konsequent denkt der Pastor in Serien, Staffeln und Folgen. Bei seinen Predigten, aber auch bei Projekten und neuen kirchlichen Angeboten. Beim «Predigtbier» bietet er Leuten an, sich einmal im Monat in der Kneipe nebenan zu treffen, um über den Predigttext zu diskutieren. Nach drei, vier Treffen gibt es eine Pause, in der er etwas anderes macht. Etwa die Whatsapp-Bibellesegruppe, bei der eine Staffel fünf bis sechs Wochen dauert. Die Befristung ermöglicht es den Teilnehmenden, nach einer Staffel auszusteigen, ohne sich erklären zu müssen. Sie erlaubt aber auch dem Team, ein Angebot auslaufen zu lassen, ohne Erwartungen zu enttäuschen. Wenn das Interesse aller Beteiligten gross ist, wird eine Fortsetzung geplant, und wenn nicht, werden Ressourcen für andere Projekte frei.
Ist die Hemmschwelle nicht sehr hoch, wenn Menschen sich ständig neu für etwas entscheiden, in eine neue Gruppe einsteigen müssen? «Ich erlebe es gerade umgekehrt», sagt Jonas Goebel. «Es ist viel schwieriger, in eine Gruppe hineinzufinden, die schon ewig lange besteht. Wenn alle zum ersten Mal dabei sind, ist die Hemmschwelle niedriger.» Natürlich gibt es auch in Hamburg-Lohbrügge Angebote, die kontinuierlich bestehen, etwa der Seniorentreff oder die Lebensmittelausgabe. Und natürlich gibt es die treuen Mitglieder, die immer und bei allem dabei sind. Aber viele lassen sich für ein einzelnes Projekt gewinnen oder wählen Angebote «nach Genre» aus. «Es gibt etwa diejenigen, die überall dort erscheinen, wo in der Bibel gelesen wird. Und andere, die überall dort erscheinen, wo nicht in der Bibel gelesen wird.»
Mehr Freiwilligenengagement
Die Netflixisierung macht es auch leichter, Freiwillige zu finden. «Die Leute können sagen: bei dieser Staffel helfe ich mit, bei der nächsten setze ich aus, und für die übernächste kannst du mich gerne wieder anfragen.» Immer wieder kommen Menschen auf Jonas zu, die selbst Ideen haben und sich einbringen wollen. Auch die Bereitschaft, sich in der Kirchenpflege zu engagieren, nimmt zu. «Nächstes Jahr stehen die Wahlen an, und obwohl man sich dabei für fünf Jahre verpflichtet, haben wir eher zu viele als zu wenige Kandidatinnen und Kandidaten.» Das liegt, so Jonas, auch am Auftritt und der Öffentlichkeitswirksamkeit der Gemeinde, die in den Medien präsent ist und auch mal Werbespots im Supermarkt schaltet. «Wenn eine gute Stimmung rund um die Kirchgemeinde entsteht, dann wollen die Leute unsere Arbeit unterstützen, dann wird auch das Amt des Kirchenvorstands attraktiv.»
Jonas Goebel wünscht sich, dass die Kirche Relevanz hat. Nicht nur für sich selbst und ein paar wenige, die sie betreut, sondern für die Gesellschaft, in der sie sich bewegt. Die Vorwürfe, nur gutes Marketing zu betreiben oder einer negativen Entwicklung in der Gesellschaft Vorschub zu leisten, lässt er nicht gelten. «Zum einen gibt es immer weniger Leute, die dauerhafte Betreuung suchen und brauchen. Zum anderen sind unterschiedliche Formen der Nachfolge im Christentum seit jeher angelegt. Jesus hat nicht von allen gefordert, alles stehen und liegen zu lassen. Einem Mann, der geheilt wurde und ihm folgen wollte, sagte er etwa: Geh zurück nach Hause und erzähle, was Gott für dich getan hat.» Eine hohe Verbindlichkeit hat ihren Wert, so Jonas. Aber die Menschen sollen sich auch entscheiden dürfen, nur eine Folge oder Staffel mit dabei zu sein. Fortsetzung folgt.
Jonas Goebel ist evangelischer Pastor in einer Hamburger Vorortgemeinde. Der 32-Jährige hat sich einen Namen gemacht als «Netflix-Pfarrer», denn mit seinen zeitlich begrenzten Angeboten trifft er den Nerv der Zeit. Auf seinem Blog www.juhopma.de schreibt er zu seinem Pfarralltag, sein Romandebüt «Jesus, die Milch ist alle» erschien 2021 in 2. Auflage.
Buchtipp: Jesus, die Milch ist alle - Meine schräge WG und ich, Jonas Goebel, 2. Auflage 2021, Verlag Herder, Freiburg.
Die ersten Berufsjahre hat Susanna Klöti auf befristeten Pfarrstellen verbracht. Die Verweserschaften ermöglichten es ihr, Unterschiedliches kennenzulernen und eigene Berufswünsche zu ergründen. Neben vielen Chancen hat dieses Arbeitsmodell auch seine Schattenseiten.
Von Martin Hirzel
Martin Hirzel: In den vergangenen Jahren hast du zahlreiche befristete pfarramtliche Anstellungen, sogenannte Verweserschaften, übernommen. Wie kam es dazu?
Susanna Klöti (SK) Wie heisst es so schön: «Gottes Wege sind unergründlich.» Im Gegensatz zur Zeit vor dem Theologiestudium zweifelte ich während des Studiums und auch während des Vikariats immer wieder daran, ob ich wirklich Pfarrerin werden möchte. Die Entscheidung für diese Form von Pfarramt kristallisierte sich für mich während des Vikariats heraus. Verweserschaften gaben mir die Möglichkeit, Unterschiedliches kennenzulernen, zu experimentieren und mich und meine Berufswünsche besser zu ergründen. Der Gedanke, mich fix an eine Stelle zu binden, engte mich ein und machte mir Angst – Wo Gottes Geist ist, da ist Freiheit. Ich war besorgt, dass mir diese Freiheit genommen wird.
Wie erlebtest du dann Freiheit? Und was half, die Angst vor einer festen Stelle zu überwinden?
SK: Das Gefühl von Freiheit erlebte ich besonders gegen Ende einer befristeten Anstellung. Ich wusste, dass ich mich nach einer bestimmten Zeit, wieder neu orientieren und reflektieren konnte. Zudem entbindet einem die Verweserschaft von gewissen Verantwortlichkeiten für die Kirchgemeinde. Die Angst eine Festanstellung anzunehmen, überwand ich schliesslich mit einer Selbstberuhigung: ‹Auch wenn ich fest angestellt bin, heisst das nicht, dass ich für immer bleiben muss.› Das neue Personalreglement der Reformierten Kirche Kanton Luzern sprach ebenfalls für mich. Das Pfarramt wird für mich so mehr zu einem Beruf als zu einer Berufung. Mich entlastet dieser Gedanke.
Wie fandest du jeweils neue Anstellungen?
SK: Das Wunderbare – für manche eher Schwierige – der kirchlichen Landschaft Schweiz zeichnet sich durch das wahnsinnig gut funktionierende Buschtelefon aus. Die Stellenangebote fanden den Weg zu mir, ohne dass ich danach fragen musste. Man kennt sich untereinander, weiss oft, wie die Pfarrkolleginnen und -kollegen unterwegs sind. So eröffnen sich Möglichkeiten.
Gab es Kriterien für die Auswahl?
SK: Sicher. Ich würde mich nie für einen Schwerpunkt entscheiden, der mir nicht entspricht. Denn Kirche erlebbar machen, wo Leidenschaft fehlt, ist schlicht unmöglich. Zudem gefallen mir Kirchgemeinden, die herausfordern, Pfarrstellen im Brennpunkt des Lebens. Nicht die, bei denen alles am Schnürchen läuft.
Was spricht im Rückblick für die Wahl von Verweserschaften?
SK: Jede Kirchgemeinde hat ihren eigenen Groove, ihren eigenen Rhythmus, eigene Melodie und unterschiedlichste Takte, um das kirchliche Leben zu bespielen. Befristete Stellen bieten die Chance, sich aus all diesen Erfahrungen sein eigenes pfarramtliches Musikstück zu komponieren. Yep, ich bin Schlagzeugerin.
Kannst du mit der Wendung «Lehr- und Wanderjahre» mit Blick auf deine bisherige Berufslaufbahn etwas anfangen?
SK: Das bringt mich zum Schmunzeln – wie gerne wäre ich mit Gott und einer Gemeinde tatsächlich draussen in der Natur unterwegs. Am Wanderpredigen. Wie dies Jesus tat. Ich bin überzeugt, dass Gottes Wege unergründlich sind. All diese Schritte, verschiedenen Wege, die ich jetzt gehe und an verschiedenen Orten und Stationen wirken und lehren darf, werden mich im Endeffekt dahinführen, wo ich hingehöre.
Welches sind die Schattenseiten befristeter Anstellungen?
SK: In meinen pfarramtlichen Tätigkeiten setze ich viel auf Beziehungsarbeit. Mir fällt es schwer, zu einem Gegenüber der Gemeinde zu werden. Vielmehr finde ich mich schnell emotional mittendrin. Die Menschen hinterlassen Spuren und wachsen mir ans Herz. Hier eine gesunde Distanz aufzubauen, mit dem Bewusstsein, dass ich bald weg bin, ist nicht so einfach. Einige Menschen wollten mein Versprechen, dass ich sie einmal beerdigen werde. Ihnen beizubringen, dass ich meinen Nachfolgerinnen und Nachfolger nicht ins «Pfarrgärtli» treten möchte und sie auch nicht weiter seelsorgerlich betreuen konnte und wollte, stiess auf manches Unverständnis. Kurze Anstellungen bieten auch weniger Möglichkeiten, sein eigenes Profil zu entwickeln und sich selbst zu entfalten.
Wie erlebtest du Abschied und Neuanfang in den Kirchgemeinden?
SK: Wie oft predige ich von der Wichtigkeit des Loslassens. Leider bin ich auch selbst nicht sonderlich gut darin. Ein kleiner Faden spannt sich zu jeder Kirchgemeinde, die ich hinter mir lasse. Diese Verbundenheit anzunehmen, ohne sich dabei weiterhin Arbeit aufzuladen, ist schwierig. Neuanfänge bedeuten Hinhören, Erkunden, und Vernetzen und immer auch irgendwie, sich neu unter Beweis zu stellen. Das kostet Zeit und Energie, bietet aber auch Chancen.
Würdest du jungen Kolleginnen und Kollegen empfehlen, nach dem Studium mit befristeten Anstellungen ins Berufsleben einzusteigen?
SK: Halleluja, ja! Die Kirchgemeinden laufen einem nicht davon!
Du hast im November 2021 eine feste Stelle als Jugendpfarrerin in der Stadt Luzern übernommen und arbeitest vor allem in der Lukaskirche. Was bedeutet dieser Schritt für dich?
SK: Das war ein: «läck bobbi, ez bisch 30, ziit zum sesshaft werde.» Nein, das ist natürlich nicht der einzige Grund. Die Stelle hat mich angesprochen und sie fordert mich auf vielen Ebenen heraus; da wo ich es mir erhoffte nach all den pfarramtlichen Erfahrungen, die ich gesammelt habe. Ich kann da wirken, wo ich auch wirklich wirken will und meine Gaben und Talente einsetzen kann.
Susanna Klöti ist Pfarrerin. Ihre ersten Amtsjahre hat sie bewusst auf verschiedensten befristeten Pfarrstellen verbracht und so vielfältige Erfahrungen gesammelt. Heute ist sie Jugendpfarrerin in der Stadt Luzern. susanna.kloeti@reflu.ch
Vorläufigkeit hat in der Kirche selten einen guten Ruf. Vieles scheint für die Ewigkeit gemacht. Die erfahrbare Zerbrechlichkeit des Ewigen zwingt uns aber im kirchlichen Handeln auch das Vorläufige wertzuschätzen und Altes und Neues zu verbinden.
Von Michael Schüssler
Die Botschaft des ewigen Gottes vermutet man meist in jenen Bildern, Symbolen und Sozialformen, die selbst wie für die Ewigkeit gemacht scheinen. Doch was ist mit Gottes ewiger Neuheit, der Geburtlichkeit Jesu und dem biblischen Zeugnis, jederzeit mit dem messianischen Ereignis eines Neuanfangs rechnen zu dürfen?
Man müsste versuchen, das Risiko der Gegenwart zum prekären Ort der Entdeckung Gottes zu machen. Der Sozialphilosoph Bruno Latour hat das wunderbar beschrieben. «Stellen sie sich einen Liebenden vor, der die Frage ‹Liebst Du mich?› mit dem Satz beantwortet ‹Aber ja, du weisst es doch, ich habe es Dir letztes Jahr schon gesagt.› … Wie könnte er entschiedener bezeugen, dass er endgültig aufgehört hat zu lieben? … Angesichts dieser Antwort verstünde jeder unparteiische Beobachter, dass der Liebhaber nichts verstanden hat. Denn die Freundin fragte ihn ja nicht, ob er sie geliebt habe, sondern ob er jetzt liebe.» Die liebende Freundin wollte kein zurückliegendes Geschichtsdatum wissen, und auch nicht was irgendwie immer gilt, sondern ob sie jetzt geliebt ist. Es ist die Frage nach dem Ereignischarakter der Liebe … und der christlichen Botschaft?
Folgt man Michel de Certeau, dann gehört es zur christlichen Offenbarung, dass wir gerade keinen eindeutigen Zugriff auf das Ursprungs-
Ereignis haben. Das Grab ist leer und auf dem Weg nach Emmaus ist Jesus in dem Moment verschwunden, in dem er identifiziert werden konnte. Die Jünger:innen müssen sich ihren eigenen Reim darauf machen, ihre eigene Theologie und Lebenspraxis entwerfen. «Die Wahrheit des Anfangs enthüllt sich nur durch den Raum von Möglichkeiten, den sie eröffnet. … Endlos stirbt sie ihrer eigenen historischen Partikularität, aber in die Erfindungen hinein, die sie anregt.»
Müsste man also nicht mit Gottes Spuren in situativen Begegnungen rechnen, in seelsorglichen Gelegenheiten, in der Zoom-Andacht während des Corona-Lockdowns? Kirche entsteht aus der situativen Ereignishaftigkeit, in der es zur kreativen Konfrontation von Evangelium und Existenz kommt (Rainer Bucher). Alle institutionellen und organisierten Kirchenstrukturen stehen im Dienst, genau das zu ermöglichen.
Das Evangelium ohne Missionsdruck freigeben
Es geht im Christentum nicht um den Glauben als ein religiöses Besserwissen, sondern um die befreiende Erfahrung des Neubeginns, um das, was sich von Gott her hier und jetzt an befreienden Horizonten auftut, auch wenn es nicht so benannt wird. Die einzige Forderung des Evangeliums ist ein zum Leben-Kommen des jeweils Anderen, ohne sie oder ihn zwingend in eine Gemeinde noch in ein religiöses Bekenntnis hineinzumanövrieren. Den Glauben in dieser Weise freizugeben heisst eben nicht, ihn aufzugeben, sondern (mit François Jullien) die Ressourcen der Tradition für ereignishafte Aneignungen zur Verfügung zu stellen.
Kirchliche Sozialformen freigeben
Die Grenzen der organisierten Kirchen sind nicht die Grenzen der Aktualisierung des Evangeliums vom Reich Gottes. Frei geben heisst, die christliche Botschaft zu entdecken, auch wenn man die Erwartungen der Anwesenden nicht kennt, wenn sie nicht schon christlich vorgeprägt und mit den Selbstverständlichkeiten der gemeindlichen Kirche abgeglichen sind. Kirchliche Orte sind keine religiösen Bewahranstalten, die Gott einen Platz in der Welt sichern müssten. Biblisch begegnen viele Menschen der heilsamen Präsenz und Gastfreundschaft Jesu, ohne dass sie alle Jünger:innen werden (müssten).
Die Zeit aus ihrer Dauer freigeben
Dauer als Kontinuität ist nicht die entscheidende Qualität kirchlichen Handelns. Treue zum Evangelium entsteht nicht durch die ungebrochene Linie einer 2000-jährigen Geschichte und auch nicht aus der Zukunftserwartung, eine ideale Utopie – wie man so sagt – «umsetzen» zu können. Die Neuerfindung des Evangeliums findet statt, wenn die in den Glaubensarchiven beheimateten Versprechen Gottes zum Ereignis unserer Gegenwart werden: wenn sich Versöhnung ereignet, wenn den Anderen unbeschadet aller Differenz Anerkennung gewährt wird, wenn Menschen den Glauben als befreiende Horizonteröffnung erleben – oder bis zum Verzweifeln an und vor Gott genau darum ringen.
Die erfahrbare Zerbrechlichkeit des Ewigen zwingt auch im kirchlichen Handeln zu einer neuen Wertschätzung des Vorläufigen. Wenn etwa alte Kirchengebäude Risse bekommen, ist Kreativität gefragt, die Altes und Neues verbindet. Zwei Beispiele: Als in Bamberg die zentrale Kirche des ökumenischen Mittagsgebets wegen Baufälligkeit nicht mehr genutzt werden konnte, hat das Seelsorgeteam eine alte Kirchenbank aus dem Depot in den Stadtpark gestellt. Die «Bank auf der Schillerwiese» wurde zum Ort von Seelsorgenden, zur Gelegenheit für Passanten, zum Ereignisort von Kirche im Draussen: Altes an neuen Orten!
Und als in der Stuttgarter Kirche St. Maria der Putz von der Decke bröckelte und statt Bankreihen ein Holzdeck für die Hebebühnen den Raum öffnete, entstand das Pastoralprojekt «St. Maria als». Zusammen mit einer Gruppe von Architekturstudierenden (Stadtlücken e.V.) hat man die urbane Nachbarschaft gefragt: «Wir haben eine Kirche – haben sie eine Idee?» Und die überraschende Erfahrung des Sommers 2017 lautet: Ja, es gibt viele Ideen und diese waren tatsächlich «neu, bunt, unkonkret, phantastisch, stückhaft, gross oder klein»: Die «Barber Angels» schneiden den Obdachlosen kostenlos die Haare, Studierende denken über Leere und Fülle in der Stadt nach, Paare tanzen in der Kirche Silent Tango, Kinder feiern ihre Erstkommunion im Provisorium: Neues an alten Orten!
Wer sich der Vorläufigkeit aussetzt, kann nicht mehr alles kontrollieren, ist aber auch nicht einfach verschwunden. Sobald man den religiösen Kirchenraum, eine bekenntnisfixierte Engführung und die Erwartung dauerhafter Kirchenbindung freigibt, explodiert das Interesse an dem, was man als Kirche der Stadt frei zu geben und von ihr zu empfangen hat – das Evangelium im Dazwischen.
Michael Schüssler ist Professor für Praktische Theologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das Ereignisdispositiv –
Veränderte Zeitstrukturen als Herausforderung für Kirche und Theologie.
michael.schuessler@uni-tuebingen.de
Pastoralprojekt «St. Maria als …». Die Initiant:innen haben in der Nachbarschaft gefragt: «Wir haben eine Kirche. Haben Sie eine Idee?» Entstanden ist viel Neus an einem alten Ort. www.st-maria-als.de
Ganz ehrlich: Tun wir uns nicht alle schwer, unbekümmert loszulegen und nur vorläufige Ergebnisse zu erzielen? Genau das sind aber Denkweise und Methoden des Designs. Sie bringen das Potenzial mit, komplexe Herausforderungen anzupacken und Veränderungen kollektiv erfahrbar zu machen.
Von Stefano Vannotti
Das Grundprinzip aller Gestaltungsdisziplinen ist es, kontinuierlich zu experimentieren und aus diesen Schlaufen zu lernen. Designerinnen und Designer tauchen in ihrer Tätigkeit in einen Entwicklungsprozess ein, in welchem sie sich iterativ einer möglichst passenden Lösung annähern. Das Ziel dabei ist, einen aktuellen Zustand in einen neuen, wünschenswerten zu transformieren. Keine leichte Aufgabe, gilt es doch, die oft widersprüchlichen Bedürfnisse vieler Menschen möglichst optimal aufeinander abzustimmen. Gegenstand dieser Transformationen sind immer seltener Produkte. Vielmehr sind es offene Handlungsanlagen, welche erst im Gebrauch von den Nutzenden nach ihren Wünschen angepasst und weiterentwickelt werden. Hierzu zählt sicherlich auch das kirchliche Umfeld, welches sich im beständigen Prozess befindet, hin zu einer offenen und zeitgemässen Institution, zu der viele Wege führen.
Gedanken und Ideen externalisieren
Um sich diese zukünftigen Lösungen besser ausmalen zu können, nutzen Gestalter:innen die Methode des Prototypings. Kerngedanke ist, den Ideen in unseren Köpfen möglichst früh eine konkrete Form zu geben. Dieses direkte Externalisieren von unfertigen Gedanken oder Geistesblitzen macht die Dinge erst wirklich konkret und einfacher verhandelbar. Als Prototyp gilt bereits eine in aller Eile hingekritzelte Skizze. Beteiligte sind immer wieder überrascht, wie diese wenigen Striche einer unausgegorenen Idee bereits eine erste Form geben und so weitere Verfeinerungsschritte befeuern. Die in den Skizzen manifestierten Entwürfe helfen uns, Dinge in Bezug zu setzen. Sie schaffen eine gemeinsame Sprache, um komplexe Sachverhalte richtig zu verstehen und erfolgreich weiterzuentwickeln.
Mehr Denkweise als Werkzeug
Rund um den zentralen Vorgang des Entwerfens und Sichtbarmachens hat sich ein umfassender Ansatz entwickelt: das Design Thinking. Dieses reflexive Grundprinzip des Denkens durch Machen wird gegenwärtig auf ganz unterschiedliche Herausforderungen angewendet und in diversen Bereichen eingesetzt. Dem Design Thinking liegt ein höchst kollaborativer Prozess zugrunde, in welchem durch konsequentes Entwerfen und Testen die menschlichen Bedürfnisse viel schneller verstanden und dafür gestaltet werden können. Voraussetzung hierfür sind unter anderem ein grosses Mass an Empathie, keine Angst vor Fehlern und eine konsequente Ergebnisoffenheit. Gerade diese Flexibilität und die ganzheitliche Herangehensweise, welche durch das permanente Prototyping gewährleistet ist, scheint sich besonders gut für die dynamischen und oft widersprüchlichen Herausforderungen unserer Zeit zu eignen.
Vorläufigkeit wird zum Prinzip
Es kann uns also weiterbringen, alles, was wir anpacken, möglichst rasch in eine prototypische Form zu übersetzen. Doch wie macht man einen Prototyp von etwas Unkonkretem? Im kirchlichen Umfeld wie auch in vielen anderen gesellschaftlichen und sozialen Bereichen wird bereits auf Design Thinking und Prototyping gesetzt, wenn auch nicht immer ganz offensichtlich. Jedes Pilotprojekt beispielsweise ist nichts anderes als ein Prototyp: Eine konzeptionelle Idee wird konkret in der Realität umgesetzt, im laufenden Betrieb getestet und weiter verfeinert. Dabei wird die Vorläufigkeit zum ultimativen Prinzip. Der lebendige Aushandlungsprozess mit möglichst vielen unterschiedlichen Beteiligten und Nutzenden schafft eine reale Umgebung, in der sich gezielt Aspekte untersuchen lassen, die auf konzeptioneller Ebene niemals in dieser Tiefe ergründet werden könnten. Somit ist ein Live-Prototyp ein ganzheitliches Vehikel, um Transformation und Innovation durch konkrete Umsetzung aktiv voranzutreiben und nachhaltig zu verankern. Prototypisches Handeln kann auch allen Beteiligten Sicherheit geben und damit nachhaltige Akzeptanz für eine Idee schaffen, mögliche Verlustängste abbauen und scheinbar unüberwindbare Zielkonflikte auflösen: Prototyping als offene Einladung zum Mitwirken und gemeinsamen Ausloten mutiger Veränderungen.
Mutig machen und reflektieren
Vielleicht müssen wir uns gerade in diesen turbulenten Zeiten von endgültigen und fertigen Lösungen oder Plänen verabschieden und den Ansatz des permanenten Prototypings zur Maxime erklären. Rund um Prototypen lassen sich sehr gut gemeinsame Erfahrungen gestalten, Werte verhandeln und Innovationen anpacken. Nicht nur in unseren Köpfen, sondern anfassbar und konkret. Unsere Alltagssprache hält dafür sogar einen Leitspruch bereit, dem wir vielleicht noch konsequenter Folge leisten sollten: Probieren geht über Studieren! Werden wir also mutig und steigern unsere reflexiven Fähigkeiten im konkreten Machen. Alles ist ein Prototyp und wir tun gut daran, täglich daran zu feilen.
Stefano Vannotti leitet den Bereich Dienstleistung und Weiterbildung am Departement Design an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Er ist Studienleiter des Weiterbildungsprogramms MAS Strategic Design und begleitet Unternehmen und Organisationen in Transformationsvorhaben aller Art. stefano.vannotti@zhdk.ch

Ich möchte Ihnen vorläufig verzeihen, dass Sie mich möglicherweise, wenn überhaupt, erst rückwirkend wahrgenommen haben werden. Halt! Ich bin kein Virus. Keine Impfung. Und das ist keine Verschwörungstheorie. Ich bin nur der Mensch, der in dieser Publikation für ein Jahr schriftlich zu Gast war. Nun zieht es mich weiter, wohin weiss ich noch nicht. Schreibend irgendwo zuhause sein, kann man wohl, ich bin es vorderhand nicht – als Dichter muss ich, versuche ich, in Bewegung zu bleiben, bin schreibend ein Vorläufigbeheimateter. Aber ist das nicht eigentlich jeder Mensch? Wir sind ja bekanntermassen oder zumindest höchstwahrscheinlich nur vorübergehend zu Gast auf Erden. Auch wenn ein paar sich selbstvergötternde Superreiche glauben, dank ihrer Milliarden-Investitionen in Anmassungsforschung, ihren Statuts noch vor ihrem Ableben in «Ewiglebende» ändern zu können, bleibt das Leben einstweilig ein befristetes Praktikum.
Was ich sagen will: Ich möchte vorerst noch keine Abschiedsrede auf mich selbst halten, sondern mir zunächst weiterhin Gedanken darüber machen, weshalb ich es an dieser Stelle nicht schaffe, schreibend auf den Punkt zu kommen. Zumindest vorläufig. Meine Gedanken sind heute einfach nicht zu ordnen! Es ist mir geradezu peinlich, wie mir diese Kolumne entgleitet, als wäre ich in Quarantäne und sie fürchtete sich von mir angesteckt und also endgültig beendet zu werden. Bin wohl bloss etwas abschiedssentimental. Wobei es doch hinlänglich bekannt ist, dass kein Glück ewig währt – ja, nichts währt ewig ausser die fortdauernde Vorläufigkeit! Was ich eigentlich sagen wollte, kann ich aufgrund des beschränkten Platzes, der mir hier zusteht, nun vorerst leider nicht mehr zum Ausdruck bringen. Dafür möchte ich mich bei Ihnen in aller Form entschuldigen. Bis auf weiteres.
Wir dürfen Fehler machen
Ich bin ein Cevianer. Als Jugendleiter habe ich gemerkt: hier wird mir etwas zugetraut, und wenn ich einen Fehler mache, helfen die anderen. Als ich im Lager für die Reise verantwortlich war, stieg ich mit der Gruppe in den falschen Zug und wir verpassten das Postauto. Alle nahmen es sportlich, ein Teil ging zu Fuss und für die anderen leistete das Küchenteam einen Shuttleservice. Trotzdem lernte ich dazu und verpasste nie wieder einen Zug mit einer Gruppe.
Dass in meinem Cevi-Team auch Fragen rund um Gott und die Bibel diskutiert wurden, weckte mein Interesse am Glauben. Ich stellte fest, dass die Leute in meinem Umfeld unterschiedliche Ansichten hatten. Was ich vom reformierten Pfarrer hörte, sagte mir zu. Es passte zu der Erfahrung, dass nicht alles so einfach gestrickt ist im Leben. Ich überlegte mir, Theologie zu studieren, wurde aber zunächst Primarlehrer. Nach zwei Jahren Berufstätigkeit bin ich dann doch ins Theologiestudium eingestiegen.
Ich schätze die Kirche als Institution. Es ist genial, dass es in den abgelegensten Dörfern ein Seelsorgeangebot gibt. Bezüglich Strukturen könnte sie sich aber einiges vom Cevi abschauen. Sie sollte Menschen ermächtigen, Freiwillige wertschätzen und nicht mit Bürokratie belasten. Und sie sollte flexibel genug sein, um lokale Initiativen unkompliziert zu unterstützen. So wie die unserer Cevi-Gruppe in der Pandemie: Wir haben über hundert Lebkuchen gebacken und sie im Dorf verteilt.
