Liebe Leserin, lieber Leser
Eine hochgradig emotionale Ausgabe erwartet Euch zu einem im wohltemperierten kirchlichen Milieu eher selten offen diskutierten Thema: Wut. Dabei beschreibt Alexander Janka Ärger als richtungsweisende Ressource, für Franz Liechti ist das kleine Wütlein ein elementares Energiemittel. Katharina Merian erinnert daran, dass Wut den Leidenden eine Stimme gibt. Michel Lansel wirft einen etymologisch-biblischen Blick auf die Nischenemotion Wut.
Eine andere Emotion treibt mich um: Wehmut. Es ist meine letzte Ausgabe, an der ich mitwirken durfte. Es war acht Jahre lang eine äusserst bereichernde Zeit in einem genialen Team, die immer Kür war und nie Pflicht. Im Pfarramt freue ich mich darauf, die Weiterbildungen wieder als Teilnehmer geniessen zu dürfen. Adieu und Danke!
Stephan Hagenow,
Leiter Fachstelle Personalentwicklung Pfarrschaft RefBeJuSo
Von Alexander Janka
Ärger ist ein Gefühl, eine Emotion. Als solche kann Ärger weder richtig noch verkehrt sein. Sehr wohl aber angenehm oder unangenehm. Kurz gesagt: Gefühle – also auch Ärger – sind zunächst einfach. Gefühle haben in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine wichtige Funktion. Vermutlich lassen sie mich als Mensch Dinge wahrnehmen oder erfühlen, bevor mein Kopf darüber nachdenkt. Gefühle sind viel unmittelbarer als Gedanken. Sie geben wichtige Hinweise auf mich selbst, meine Mitmenschen und meine Umwelt. Die Emotion ist somit auch immer eine Reaktion auf etwas und damit wiederum eine Aussage über etwas.
Ärger ist ein Gefühl, eine Emotion. Als solche kann Ärger weder richtig noch verkehrt sein. Sehr wohl aber angenehm oder unangenehm. Kurz gesagt: Gefühle – also auch Ärger – sind zunächst einfach. Gefühle haben in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine wichtige Funktion. Vermutlich lassen sie mich als Mensch Dinge wahrnehmen oder erfühlen, bevor mein Kopf darüber nachdenkt. Gefühle sind viel unmittelbarer als Gedanken. Sie geben wichtige Hinweise auf mich selbst, meine Mit- menschen und meine Umwelt. Die Emotion ist somit auch immer eine Reaktion auf etwas und damit wiederum eine Aussage über etwas.
Obwohl ich immer in der Gegenwart fühle, haben Gefühle und Emotionen eine zeitliche Dimension. Die zeitliche Dimension des Ärgers ist die Gegenwart, schärft dabei den Blick für das, was gerade ist. Demgegenüber lenkt beispielsweise die Trauer den Blick eher in die Vergangenheit und die Angst mehr in die Zukunft. Die vergegenwärtigende Frage, die sich mit dem Ärger verbindet, lautet: «Was stimmt (gerade) nicht?» Ärger ist also das unmittelbare und emotionale Wahrnehmen einer für mich nicht stim- migen Situation, die etwas für mich nicht Richtiges beinhaltet. Das ratio- nale Verstehen und Bewerten dessen, was nicht stimmig ist, ist sekundär. Der Ärger ist schneller im Wahrnehmen, dass etwas nicht stimmt, während der Verstand «nachliefern» kann, was nicht stimmt. Eine entscheidende Differenzierung, wie sich weiter unten noch zeigen wird.
Ärger bringt (gleichzeitig) die Energie mit, die es braucht, um die vom Ärger angezeigte (für mich) unstimmige Situation zu ändern. Diese Energie ist die Aggression, was im Wortsinn meint auf etwas zugehen oder sogar angreifen. Im Ärger steckt also sowohl das vorrationale Erkennen, dass etwas gerade nicht stimmt, wie auch die Energie, eine Veränderung anzugehen.
In einer provokanten Analyse haben Jan Feddersen und Philipp Gessler herausgearbeitet, dass die «Sprache der Kirche» einen Hang dazu hat, Unangenehmes nicht zu benennen oder sogar zu kaschieren. Darin spiegelt sich wider, dass in der (aktuellen) kirchlichen Kultur kaum angemessene Ausdrucksformen für Ärger, Aggression und die daraus resultieren- den Konflikte bestehen. Ärger jedoch ist als Gefühl ein wichtiger Begleiter von Veränderungsprozessen.
Dynamische Transformation
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau – die Landeskirche, in der ich als Gemeindeberater und Pfarrer tätig bin – verändert sich rasant aufgrund des demographischen Faktors, wegen einer überschaubaren, aber stetigen Zahl an Austritten und aufgrund einer sich stark verän- dernden kulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung in Deutschland. Meines Erachtens handelt es sich dabei um das, was Rudolf Wimmer als Wandel dritter Ordnung beschreibt, und zwar nicht im Sinne einer «vorausschauenden Selbsterneuerung», sondern vielmehr als «radikale Transformation».
Ein so umfassender Veränderungsprozess dringt tief in die Kultur und Struktur einer Organisation ein, sodass die Menschen im System unaus- weichlich mit unbekannten und «Nicht-(mehr)-Stimmigem» konfrontiert sind. Kurzum: Die Menschen im System werden vermutlich eine Menge Ärger fühlen – und natürlich auch Angst über die ungewisse Zukunft erleben.
In der Kirche trifft also ein durch einen radikalen Transformationsprozess ausgelöster, unausweichlicher Ärger auf eine Kultur der Ärger-Unfä- higkeit, der Ärger-Unwilligkeit und des Ärger-Tabus. Die Folge nicht geklärter Ärger-Ursachen und fehlender Klärungsräume sind nicht selten Konflikte, die personalisiert werden und eskalieren, obgleich ursächlich keine Konflikte zwischen Personen vorliegen. Häufig können Konflikte dieser Art nur noch durch Machteingriffe aufgelöst werden.
Der Ärger von Menschen in einer Organisation richtet sich nicht gegen die Organisation als solche, sondern gegen das, was Menschen in, mit und für die Organisation tun und wie sich dies in den etablierten Strukturen abbildet. Systemisch betrachtet führt jede Handlung oder auch das Ausbleiben einer notwendigen Handlung zu einer Resonanz im System. Es kommt zu ständigen intraorganisationalen Differenzen. Verkürzt kann man sagen, dass Menschen in Organisationen fortwährend Differenzen und Unstimmigkeiten erleben und es somit unausweichlich auch zum Gefühl von Ärger kommt.
Hier gilt es sprachlich auf ein Detail zu achten: Der Ärger gehört zu mir, ist mein Gefühl. Der Satz «es ärgert mich» oder in der personalisierten Variante «du ärgerst mich» ist unzutreffend. Es muss heissen «Ich ärgere mich (über)». So formuliert verweist der Ärger wiederum auf den Umstand, dass etwas (in der Organisation) für mich nicht stimmt, also in Differenz zu meinen Bedürfnissen, Wünschen oder Erwartungen steht. An dieser Stelle ist es wichtig, den Verstand hinzuzuziehen, der rational analysieren kann, was da für mich nicht stimmt. Ist diese Analyse erfolgt, kann wiederum ein gezielter Veränderungsimpuls entstehen, der sich energetisch aus der Aggression speist.
Ärger als Analyse- und Diagnoseinstrument
Folgt man diesem Kreislauf aus organisationaler Differenz, emotionalem Ärger, rationaler Analyse und aggressivem (energiegeladenem) (Ver-) Änderungsimpuls ist augenscheinlich, dass eine Kultur, in der Ärger tabu- isiert ist, aber zwangsläufig und ständig erlebt wird, zunächst ein Prob- lem hat. Daraus zeigt sich folgend ein Entwicklungsbedarf bzw. eine Ent- wicklungschance. Die Chance besteht darin, Ärger als intuitives Analyse- und Diagnoseinstrument zu begreifen und als Teil der Organisa- tionsentwicklung zu nutzen. Theologisch verkürzt möchte ich hier auf die jüdische und christliche Vorstellung vom «Zorn» Gottes verweisen. Die- ser entsteht aus der Grundhaltung der Liebe und des Zugewandtseins (vgl. Jesaja 54,8) über selbst- oder fremdschädigendes Handeln und Verhalten.
Demnach sollte Kirche auf allen Organisationsebenen beginnen, Ärger (im Sinne von «Zorn») nicht als Bedrohung zu vermeiden, sondern als richtungsweisende Ressource zu akzeptieren, zu nutzen und kulturell zu etablieren. Menschen in der Organisation Kirche sollten geschult werden, ihren systemisch bedingten Ärger angemessen auszudrücken und in seiner strukturanalytischen Dimension zu erfassen und zu nutzen. Konflikte, die bereits ein Eigenleben entwickelt und sich von ihrer strukturellen Ursache gelöst, in einem personalisierten Konflikt «abgelagert» haben, benötigen offen(siv)e und professionelle Begleitung. Die Kirche sollte beginnen, ein «systemisches Ärger- und Konfliktmanagement» zu entwickeln und zu implementieren: von der Vermeidung des tabuisierten Gefühls Ärger zur Ermutigung von bewusstem Ärger-Erleben und zur Einschätzung und Würdigung von Ärger als einem hilfreichen und wirksamen Steuerungsinstrument.
Alexander Janka ist ev. Theologe und Pfarrer und seit über achtzehn Jahren im Gemeindepfarrdienst. Seit 2019 ist er mit halber Stelle Studienleiter für Gemeindeberatung und -entwicklung am Institut Personalberatung, Organisationsentwicklung und Supervision (IPOS) der EKHN beschäftigt. Als systemischer Organisationsentwickler, -berater, (zertifizierter) Mediator und Coach (dvct) vor allem in der Krisen- und Konfliktberatung tätig. Kontakt: alexander.janka@ ekhn.de
Die blutleere Sprache der Kirche, Feddersen, J. u. Gessler, P. Phraseunser, München 2020.
Der kleine Ärger und die grosse Wut, Baer, U. u. Frick-Baer, G. Weinheim / Basel 2009.
Wie Ziegen und Fische fliegen lernen. Die Entwicklungskraft von Konflikten in Unterneh- men; Kerntke, W., Frankfurt am Main 2018.
Systemisches Konfliktmanagement, Faller, K. / Fechler, B. / Kerntke, W. (Hrsg.), Stuttgart 2014.
Konflikte entstehen, weil oft unausgesprochen bleibt, was traurig, wütend oder ängstlich macht. Die Transaktionsana- lyse bietet dafür ein Modell, das beschreibt, was man denken und fühlen und wie man emotional reagieren darf. Diese Idee könnte auch auf Institutionen übertragen werden.
Von Stephan Hagenow
Stephan Hagenow: Du bist in der kirchlichen Beratung tätig. Wie oft begegnen dir wütende Menschen?
Franz Liechti-Genge (FLG): Ich unterscheide gerne zwischen verschiedenen Kategorien von Wut. Für mich gibt es Wut als Emotion, die etwas bewirkt, Grenzen setzt und dann wieder vergeht. Und es gibt Wut als Ärgerlichkeit, in der man einfach drin ist und die nichts bewirkt. Die erste Form, aus der heraus jemand deutlich sagt, was er oder sie meint, erlebe ich deutlich weniger als die zweite Form, das Ärgerliche, Wabernde, Klebrige, die kaum etwas bewegt. Viele sind einfach hässig, auf die da in der Kirchenleitung, im Rat oder auf die Pfarrerschaft.
Wie erklärst du dir diese Kultur, in der die Emotionen so wohltemperiert herüberkommen?
FLG Wir bringen Emotionen häufig mit etwas Grossem, Schwerem und Schlechtem in Verbindung. Bei Wut beispielsweise stellt man sich hochrote Köpfe vor, Menschen, die dreinschlagen. Das passt nicht in die Kirchenkultur. Es wäre schön, wenn man sich ein «Wütlein» gönnen würde, in dem Sinne, dass man hinsteht und Energie fliesst.
Ist Wut nicht oft die Kehrseite der Depression?
FLG Ich würde es gerade umgekehrt sagen, Depression ist die Kehrseite von nicht gelebter Wut. Ich beobachte, dass in kirchlichen Kreisen viele statt wütend traurig werden. Auch weil sie merken, dass sie mit dieser Strategie mehr Erfolg haben, als wenn sie wütend für die Sache oder für sich selbst hinstehen würden. Ich nenne das den «kirchlichen Opferschutzreflex». Bei diesem Vorgang bekommen die «Traurigen» und «Leidenden» Anerkennung und werden beach- tet. Die Wütenden, die für eine Sache einstehen, nicht.
In meiner Tätigkeit erlebe ich oft, dass ich zu Konflikten gerufen werde, die bereits jahrelang schwelen. Sie kranken genau daran, dass man die echten Emotionen nicht gezeigt hat und so ein Stück «Fake-Kommunikation» entstanden ist, welche den Konflikt fast unlösbar macht.
FLG Ja, wir tun uns oft schwer damit, Emotionen zu zeigen. Übrigens auch Freude und Stolz über gut Gelungenes. Auch Trauer zu zeigen, zu klagen und damit etwas zu verabschieden ist für viele eine Herausforderung. Wenn man echte Trauerarbeit leistet und sich die Emotionen gönnt, kann man auch besser abschliessen. Wut gehört in die Gegenwart, es bringt nichts, über Dinge wütend zu sein, die lange zurückliegen, weil das zu keiner Handlung führt.
Gilt das nur für Individuen oder auch für Institutionen?
FLG In der Transaktionsanalyse gibt es das Modell des «Lebensskripts», eine Art Drehbuch. Es beschreibt, was man denken und fühlen und wie man emotional reagieren darf. Diese Idee könnte auch auf Ins- titutionen übertragen werden. Zum «Drehbuch» der Institution Kirche gehört, dass immer viel offenbleibt. «Man müsste doch noch», «man könnte doch noch», den Besuch machen oder jenes Altersangebot – aber man kann nicht, weil die Ressourcen fehlen. Es fällt schwer abzuschliessen, einfach zu sagen: fertig, das machen wir jetzt nicht mehr. Und im echten Gefühl der Trauer hinter der Wut tut es dann weh – aber es kann abgeschlossen und verabschiedet werden. Vielen Pfarrpersonen fällt es hier schwer, eine Entschei- dung zu fällen. Nämlich ganz auf etwas Neues zu setzen, vielleicht sogar mit einem Quäntchen Wut «Das will ich jetzt!». Und zugleich in aller Klarheit zu sagen: «Das will ich nicht mehr.» Wir könnenschlecht aufhören.
Wie kannst Du als Berater in einer solchen Situation helfen?
FLG Ich kann bei der Trauerarbeit helfen, sich zu verabschieden von Din- gen, die einem oder der Gemeinde lieb, aber nicht mehr möglich sind. Man muss diese Dinge beerdigen und dies klar kommunizieren, offen sagen, was gelungen ist und was gefehlt hat. Gleichzeitig kann ich anregen, die ganze Gefühlspalette – auch das kreative Wütlein – das zu etwas Neuem führt, zuzulassen. Ich kann die emotionale Sprache fördern. Dadurch werden wir auch in einem Team «lesbarer». Unklarheiten oder Konflikte entstehen, weil vieles oft vage und unausgesprochen bleibt, was traurig, wütend oder ängstlich macht.
Hängt das auch mit den Erwartungen der Gemeindeglieder und ihren Rol- lenbildern zusammen? Man erwartet doch von einer Pfarrperson, dass sie für alle und alles Verständnis hat.
FLG Ich erlebe Pfarrpersonen, die Mühe haben, sich zu entscheiden und damit riskieren, möglichen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Wenn ich wähle, muss ich auch mit den Enttäuschungen umgehen können, die mir entgegenkommen von denen, die ich nicht wähle. Das ist auch eine Überlebensstrategie im Pfarramt, nämlich zu überlegen, was einem selbst wichtig ist. Natürlich gibt es immer Dinge, die man auch selbst gut fände, aber die im Rahmen einer 80- Prozent-Stelle nicht drinliegen. Das erzeugt oft ein Ohnmachtsgefühl. Um dem zu widerstehen, ist manchmal ein Quäntchen Wut als Energiemittel nötig. Umgekehrt bekommt man in unserer Kirchen- kultur meistens keine Anerkennung dafür, wenn Wut ausgedrückt oder andere Emotionen gezeigt werden. Ist jemand wütend, heisst es nicht: Schön, dass du dich so deutlich zeigst. Wenn jemand nicht gesehen wird in seinen Emotionen, verlernt er auch die Fähigkeit sie zu zeigen. Hier klemmt es in der Kirche. Pfarrerinnen und Pfar- rer erhalten strukturell und persönlich wenig Anerkennung. Nicht wenige verhungern, bekommen zu wenig von diesem Betriebsstoff des Lebens.
Widerspricht das nicht unser zentralen Rechtfertigungsbotschaft?
FLG Wenn die Anerkennung vom lieben Gott kommt, muss man sie nicht noch selbst machen (lacht). Im Französischen redet man von «reconnaissance», gesehen werden, erkannt werden. Das ist Mangelware bei uns.
Was macht dich denn wütend?
FLG Ich werde «taub», wenn ich Bedrohung fühle und mir jemand zu nahe kommt. Wenn Menschen sich nicht an abgemachte Regeln halten. Oder jetzt in der Corona-Situation, wenn ich Menschen ohne Maske sehe. Früher war ich eher jähzornig, noch heute manchmal. Durch meine Ausbildung und mit zunehmender Lebenserfahrung bin ich sicherer geworden im Umgang mit Gefühlen. Inzwischen gelingt es mir besser, das «Wütlein» zu gebrauchen, um mich zu wehren, ohne dass ich in blinder Wut agiere.
Franz Liechti-Genge ist Pfarrer, Supervisor BSO, Lehrender und Leitender am Eric Berne Institut für angewandte Transaktionsanalyse in Zürich. Er unterrichtet im Bereich der Transaktionsanalyse und in der Pfarrerweiter- bildung. Zudem ist er Kursleiter im CAS- Lehrgang für Ausbildungspfarrer*innen. franz@liechti-genge.ch.
Über die eigene Wut zu reden ist schwierig. Genau das würde sich die Theologin Katharina Merian aber wünschen. Denn Emotionen wie Wut könnten unsere etwas zahmen kirchlichen Theologien verwandeln. Das zeigt sie anhand einer Rede anlässlich des Mordes an der brasilianischen Stadträtin Marielle Franco.
Von Katharina Merian
Für viele von uns ist Wut ein unbequemes Thema, da sie ständig in Aggression oder Gewalt umschlagen könnte. Dieses Unbehagen zeigt sich auch in den Diskussionen an der Uni. Im Gespräch mit Studierenden erlebe ich immer wieder, wie schwer es ist, über die Wut und den Zorn Gottes zu sprechen, wenn Gott doch Liebe ist. Das Einzige, was dem gegenüber noch schwieriger zu sein scheint, ist das Reden über die eigene Wut – gegen sich selbst, die Mitmenschen, Gott ... Das ist schade, weil wir damit eine fundamentale Erkenntnisquelle ausser Acht lassen. Das möchte ich gerne an einem Beispiel aus Brasilien zeigen, zu dem ich forsche.
Am 14. März 2018 wurde in Rio de Janeiro Marielle Franco erschossen. Marielle war seit 2017 Stadträtin von Rio. Zuvor hatte sie viele Jahre lang in der Menschenrechtskommission des Staates Rio de Janeiro gearbei- tet, wo sie sich unermüdlich für Opfer von Menschenrechtsverletzungen einsetzte. Als schwarze Frau aus einer Favela, die jung Mutter geworden war und in einer lesbischen Beziehung lebte, repräsentierte sie diejenigen, die in der Politik traditionell keine Stimme hatten. Marielles Ermor- dung traf die Stadt darum mitten ins Herz und trieb weltweit Tausende auf die Strassen.
Der Wut eine Stimme geben
Wenige Tage nach Marielles Ermordung wurde im Zentrum Rios ein interreligiöser Akt zum Gedenken an Marielle durchgeführt. An diesem Gedenkakt wurde Pastor Henrique Vieira zum Sprachrohr der zutiefst betroffenen Menschenmenge. In seiner Rede verglich er Marielles Weg mit demjenigen von Jesus: Beide hatten mit ihrer Botschaft das Establishment in Aufregung versetzt und wurden deshalb gestoppt, aber weder die Kugeln noch das Kreuz konnten Marielle bzw. Jesus zum Schweigen bringen. Es sei wichtig, fuhr Vieira fort, den eigenen Schmerz zu respektieren und sogar zu ehren, denn «unsere Tränen und unsere Schwächen werden die Strukturen dieser Welt in Bewegung bringen».
Auch wenn Henrique Vieira in jenem Moment die Wut nicht direkt ansprach, war sie sichtbar da – bei ihm wie auch bei den anwesenden Menschen. Es war eine Wut, die gegen die Gleichgültigkeit und Resignation protestierte, welche manche angesichts von Marielles Tod zeigten: «Was soll’s? In Brasilien sterben jeden Tag Menschen im Kugelhagel. Da kann man nichts machen.» Dagegen beharrten die trauernden Menschen in ihrer Wut darauf, dass Marielles Tod nicht egal war – genau so wenig wie der Tod all der anderen Menschen. Mit seiner Rede setzte Henrique Vieira diese Wut ins Recht, indem er ihr eine Stimme gab.
Darüber hinaus bot die Rede den Menschen auch Hand, um die Wut in kreative Kraft zu verwandeln. Die Rede erinnerte sie an verschiedene Men- schen, welche sich für soziale Gerechtigkeit und die Würde aller einge- setzt hatten und dafür getötet worden waren. Neben Jesus und Marielle nannte er u.a. den schwarzen Bürgerrechtsaktivisten Martin Luther King oder Schwester Dorothy, die sich für den Schutz der Regenwälder und die Rechte von Landlosen engagierte. Diese Biografien erinnerten die Anwesenden daran, dass ihnen andere kämpfend und oft scheiternd, aber immer wieder beharrlich hoffend vorausgegangen waren – und nun sie selbst den Weg weitergehen konnten, denn: «Wir sind am Leben und der Traum lebt fort.»
Wut hat die Kraft zu verwandeln
Henrique Vieiras Rede kann sicherlich nicht als alleiniger Auslöser für das gesehen werden, was in den folgenden Monaten in Brasilien geschah. Ihre Worte dürften aber doch einige berührt und zum Nachdenken gebracht haben. Tatsächlich begannen sich nach Marielles Ermordung
viele Menschen ausgiebig mit ihrer Geschichte zu befassen und liessen sich davon inspirieren – nicht zuletzt viele schwarze Frauen. Dies zeigte sich eindrücklich an den brasilianischen Kommunalwahlen im Herbst 2018, bei denen es so viele schwarze Kandidatinnen gab wie noch nie. In Rio wurden gleich drei ehemalige Mitarbeiterinnen von Marielle als Staatsabgeordnete gewählt. Im Herbst 2020 folgte die Wahl von Marielles Lebensgefährtin in den Stadtrat Rios. Auch in Europa hatte Marielles Geschichte konkrete Folgen: So wurde beispielsweise in Paris zu Mariel- les Ehren ein «Jardin Marielle Franco» eingerichtet.
Die besprochene Rede hat mich ursprünglich vor allem deshalb interes- siert, weil ich mich in meiner Forschung mit der Rezeption von Marielles Geschichte in der Theologie beschäftige. Je länger, je mehr ich mich aber mit der Rede befasse, führt sie mir auch vor Augen, was ich mir für die Theologie hier in der Schweiz wünschen würde: dass wir aufmerksamer werden gegenüber Emotionen. Denn Emotionen wie die Wut hätten die Kraft, unsere – manchmal etwas zahmen – kirchlichen Theologien in ethische, ja sogar prophetische zu verwandeln. Ethische Theologien erinnern uns und die Gesellschaft daran, dass es letztlich nicht um abstrakte Ideen, sondern um konkretes Leid von konkreten Menschen geht und um das gemeinsame Aushandeln von gutem Leben für alle.
Rede von Pastor Henrique Vieira (auf Portugiesisch).
Katharina Merian VDM, ist Assistentin an der Theologischen Fakultät in Basel und am Forschungsprojekt «Digital Religion(s)» in Zürich. Sie arbeitet an einem Dissertationsprojekt zu Marielle Francos Geschichte aus der Perspektive einer politischen und öffentlichen Theologie.
Wütend zu sein fällt schwer. Obwohl die Wut wie auch die Angst zwei Aspekte hat, einen positiven und einen negativen, fristet sie ein Nischendasein. Trotzdem gehört sie zu einem authentischen Miteinander. Eine etymologische und theologische Spurensuche von Psychiater und Theologe Michel Lansel.
Von Michel Lansel
Auch wenn Wut wie Angst, Trauer und Freude zu den vier Grundgefühlen gehört, so spielt sie im seelsorgerlichen und psychologisch-psychothera- peutischen Diskurs eine eher untergeordnete Rolle. Schon viel wurde zum Beispiel über die Angst geschrieben, etwa, dass sie aufgrund ihrer dialektischen Natur sowohl eine warnende wie auch hemmende Bedeu- tung haben kann. Dass auch die Wut in zweierlei Hinsicht zu betrachten ist, wird indessen weniger bedacht. Etymologisch lassen sich zwei Linien nachzeichnen, die auf den germanischen Götternamen Wotan zurückzu- führen sind. Die eine Wortherkunft bezieht sich auf den destruktiven Aspekt und ist an Begriffe wie besessen oder rasend gebunden. Die andere Bedeutung, die sich wohl vom positiven Aspekt des Gottes ableitet, ist ver- mutlich mit dem lateinischen vates «Wahrsager, Seher» verwandt. So lautet ein Sprichwort des antiken Komödiendichters Laktanz: «amantium irae amoris integratio est», was übersetzt heisst: «Wutausbrüche unter Lieben- den halten die Liebe zusammen.» Ebenso wahr ist aber auch – und das könnte das Thema einer Tragödie sein –, dass unkontrollierte Wutausbrüche eine Liebe durchaus auch zerstören können. Wiederholte destruktive Affektausbrüche, die sich mitunter auch als autoaggressive Handlungen manifestieren können, sind für das soziale und berufliche Umfeld äusserst belastend und bedürfen in der Regel professioneller Hilfe. Berechtigte Wut kann dagegen wie ein reinigendes Gewitter und in einer Bezie- hung durchaus klärend wirken. Doch gibt es leider auch Ausnahmen, dann nämlich, wenn sich der Zorn gegen demütigende Bedingungen oder Vertreter knechtender Verhältnisse richtet, die keine Kritik dulden. Über dessen Folgen, die nicht im engeren Sinne zur Psychologie bzw. Psycho- pathologie des Zornes gehören, finden sich in den Lehrbüchern indes nur spärliche Angaben.
Erstaunlicherweise gibt uns ein biblischer Text hierzu Auskunft. Es han- delt sich um die Sabbatheilung im Markusevangelium (3,1–6). Die Geschichte erzählt, dass man Jesus genau beobachtete, ob er einen Kran- ken am Sabbat heilen würde. Darauf liess er diesen in die Mitte treten und fragte die Leute, ob es erlaubt sei, am Sabbat Gutes zu tun bzw. Leben zu retten. Als alle schwiegen, schaute er sie nacheinander an, zornig (gr. met‘ orges) und betrübt (gr. süllüpumenos) «über die Verstocktheit ihrer Herzen». Leider trifft die deutsche Übersetzung die Bedeutung von süllüpumenos nur unvollständig. Petra von Gemünden weist darauf hin, dass deren Radius im Griechischen weiter gespannt ist und dass der Begriff auch eine aggressive Konnotation aufweist. Damit überlappen sich die Bedeutungsfelder von zornig und betrübt in unserem Text.
Blinde Wut, gerechter Zorn
Ganz ähnlich hören wir etwa im Matthäusevangelium (18, 23–24) von einem unbarmherzigen Schuldner, dem eine gewaltige Summe erlassen wurde, der aber bei seinem Gläubiger einen viel kleineren Betrag eintreiben wollte, sodass die Mitknechte mit heftiger Trauer (elüpethesan) dar- auf reagierten, wobei im Griechischen derselbe Wortstamm wie bei süllü- pumenos enthalten ist. Ulrich Luz übersetzt treffend, dass die Mitknechte sich empörten. Aus dieser Sicht liesse sich die Geschichte von der Sabbatheilung ein wenig freier, etwa so, erzählen: «Und Jesus schaute die Leute einzeln an, zutiefst empört über die Härte ihrer Herzen, wonach es eine Zeit geben soll, in der es nicht erlaubt ist, Gutes zu tun.» Gewiss, das Wort Empörung wird mitunter unkritisch und inflationär verwendet, doch im besagten Kontext ist es m.E. durchaus angebracht. Denn hier erhebt der sich empörende, gerechte Zorn die radikale Forderung nach einer Menschlichkeit, die keine Einschränkungen durch eine unreflektierte und unbarmherzige Tradition duldet. Und genau hier entzündet sich der Konflikt mit Menschen, die sich in ihrer Unsicherheit an eine kleinliche Gesetzesauslegung klammern und deren empfindliches Ego eine berech- tigte Zornesäusserung, welche mit der Wahrheit nicht zurückhält, als persönliche Kränkung empfinden und eben diese Äusserung gerne als inad- äquat oder gar als krankhaft diskreditieren.
Es überrascht daher nicht, dass sich im Anschluss an die Heilung durch Jesus noch der schicksalsschwere Zusatz findet: «Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten sogleich mit den Herodianern den Beschluss gegen ihn, ihn umzubringen.»
Vielleicht wird jetzt klarer, warum die Wut im Vergleich zu den anderen drei Grundgefühlen eher ein Nischendasein fristet, zumal nicht nur die blinde Wut, sondern auch der berechtigte Zorn oftmals unerwünschte zwischenmenschliche Regungen zur Folge haben kann. Dies ganz im Gegen-satz zur Freude, die sowohl als stille Freude wie auch ein nach aussen getragenes Gefühl positiv konnotiert und gesellschaftlich durchaus erwünscht ist. Freude zu äussern fällt nicht schwer; zornig zu sein dage- gen schon. Als Kurzformel: Wut braucht Mut. So besehen bildet die Wut einen Kontrast zur Freude; gleichwohl sind beide Gefühle im Blick auf eine gelungene Existenz und ein authentisches Miteinander unverzichtbar.
Dr. med. lic. theol. Michel Lansel ist Theologe und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Praxis in Zürich. Zurzeit forscht er u.a. zu den Themen «Das Phänomen Angst aus (existenz-) philosophischer, psychologischer und christlicher Sicht» sowie zum Verhältnis von Seelsorge und Psychotherapie michel.lansel@hin.ch.
Wut als konstruktive Kraft
Letzthin habe ich mir vorgestellt, wie eine Welt aussehen sollte, in der ich weniger wütend wäre. Das habe ich halbwegs geschafft: Es wäre eine gerechtere, gleichberechtigtere, weniger selbstgerechtere, eine demokratischere, solidarischere, umweltschonendere und friedlichere Welt. So weit, so einfach. Aber je länger ich dar- über nachdachte, je komplizierter wurde es – bis ich mich mit meinen eigenen Privilegien hart konfrontiert saEinstweilen wäre die Welt, die ich mir vorstelle, eine, die unzählige andere wütend machte – nämlich die, die in der bestehenden, auf Kosten anderer, mehr als fürstlich leben. Eine Welt, auf die wir uns alle einigen könnten und in der wir alle harmonischer miteinander lebten, ist wohl nicht einmal gedanklich zu schaffen. Also lasse ich diese Träumerei bleiben.
Was bringt die Welt voran und wirft sie immer wieder zurück? Die Wut, die sich als konstruktive oder destruktive Kraft zeigt. Wichtig ist, kühlen Kopfes zwischen Hass und Wut zu unterscheiden: Hass macht blind, ist destruktiv, schafft nichts als mehr Hass, Wut jedoch kann zu einer Kraft werden, aus der Konstruktives entsteht, eine Kraft, die Veränderungen zum
Bessern ermöglicht. In Wirklichkeit spielen die zwei Zustände oft ineinander, deshalb sollte man seine Emotionen stets analysieren und selbstkritisch hinterfragen – ja, das ist wiederum einfacher gesagt als getan.
Was wäre ich ohne meine Wut? Ein Sofa. Ein Verdrängungskünstler. Eine rosarote Brille. Ich und meine Wut, Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Und bleibt es.
Fazit: Lassen Sie Ihre Wut zu, aber wandeln Sie sie in eine Energie, die Gutes schafft. Werden Sie dabei nicht selbstgefällig (es kann kein Zufall sein, dass in «Wut» die «Demut» anklingt). Und glauben Sie mir, das rate ich nicht nur Ihnen, sondern auch mir selbst.
In jedem Winkel der Geschichte
Mich hat nicht mein Glaube oder das Interesse an Spiritualität zur Theologie gebracht. Als Sohn eines Pfarrers stehe ich zwar der refor- mierten Tradition nahe, aber die Religion spielte keine Rolle in meinem Alltag. Sie wurde in der Familie subtil und fein dosiert verabreicht. Studieren wollte ich zunächst Philosophie und Geschichte. Nach einer Lehre schrieb ich mich in der Abendschule ein und holte die Matura nach. Ein Besuch des Infotags der Uni Basel liess mich dann auf die Theologie umschwenken. Hier kann ich den grossen Bogen schlagen und alles miteinander verknüpfen: Kunst und Kultur, Geschichte und Ethik, Philosophie und Sprachen. Theologie ist in jedem Winkel der Geschichte. Ich liebe es, sie aufzuspüren – auch ausserhalb des Studiums. Wenn ich in der Pinakothek biblische Darstellungen aus dem Mittel- alter betrachte, wenn ich über ethische und gesellschaftspolitische Fragen diskutiere, wenn ich gotische Architektur bestaune.
Der persönliche Glaube nimmt bei mir nach wie vor nicht viel Raum ein. Ich lebe meine Spiritualität in der Kontemplation von Gemälden, im Feiern unseres kulturellen Erbes. Die Bibel fasse ich nicht mit Samthandschuhen an. Dennoch merke ich, dass mich die Theologie auch persönlich bewegt. Manche motiviert ihr Glaube zum Studium und die Wissenschaft bringt sie aus dem Konzept. Bei mir ist es eher umgekehrt: Mir bahnt die Wissenschaft einen Weg zum Glauben.

Foto: Stefan Schmidlin