Liebe Leserinnen, liebe Leser
Beim Thema dieses Heftes kommt wohl vielen zuerst das Jesuswort vom Kamel und vom Nadelöhr oder die «vorrangige Option für die Armen» in den Sinn. Reichtum hat in der Kirche keinen guten Ruf. Gleichzeitig sind die Schweizer Kirchen reich und Pfarrer*innen und viele, die sich in der Kirche engagieren, sind eher gut situiert. Unsere Kirche kann ihre Strukturen und ihre Angebote nicht zuletzt durch die Beiträge vermögender Steuerzahler*innen finanzieren. Reichtum lässt sich auch als Gabe und Aufgabe betrachten und die Kirche könnte das Bedürfnis reicher Menschen, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, würdigen und ernstnehmen. Gründe genug, es sich mit dem Thema «reich» nicht zu leicht zu machen. Wir wünschen eine inspirierende und gelegentlich auch provozierende Lektüre.
Bernd Berger,
Leiter Weiterbildung pwb
In den Evangelien sind Aussagen zu Geld und Besitz geprägt von der damals herrschenden Rechtsunsicherheit. Deshalb wird eine neue Norm für Christusgläubige entwickelt: Aller Reichtum gehört Gott. Eine Auslegeordnung von Lukas Kundert, Professor für Neues Testament und Basler Kirchenratspräsident.
Von Lukas Kundert
Wenn ich mit Studierenden Jesu Äusserungen über den Reichtum auslege, dann immer unter der hermeneutischen Voraussetzung, dass die Evangelien zu einer Zeit verfasst worden sind, als in Galiläa, Judäa und in der jüdischen Diaspora allerhöchste Rechtsunsicherheit geherrscht hatte. Das judäisch-galiläische Rechtssystem war nach dem jüdisch-römischen Krieg zusammengebrochen, die Archive waren in Rauch aufgegangen, Richter und Gerichtsschreiber waren tot oder verschleppt, Gerichtshöfe inexistent oder korrupt. Da das Recht personal gedacht wurde, war nach der Niederwerfung des judäischen Aufstands durch Vespasian und Titus ungewiss, nach welchen Rechtsordnungen und Rechtsformen Menschen aus Judäa Verträge zu schliessen und Urteile zu fällen hatten. Obligationenrechtliche Unsicherheit gab es auch schon darum, weil Schuldscheine verloren waren und Guthaben darum nur noch auf Vertrauen vorhanden waren. Zugleich konnten ungerechtfertigte Forderungen erhoben und, wenn die notwendigen (falschen) Zeugen beigebracht wurden, auch durchgesetzt werden.
Was geschieht mit meinem Eigentum, wenn die Archivalien, die es begründen, verloren sind und ein anderer kommt und Anspruch darauf erhebt? Wie ist mit Ehen zu verfahren, deren Eheverträge verloren sind? Sind sie gültig, wenn ein Teil behauptet, die Ehe sei nie begründet worden? Kann und darf ich die Rückzahlung von Darlehen einfordern, wenn weder Urkunden noch Zeugen für das Leihgeschäft vorhanden sind? Und wenn ich neue Rechtsgeschäfte eingehen will, nach welchem Recht sollen diese erfolgen? Sollen Käufe nach römischem, nach dem zugrunde gegangenen judäisch-galiläischen oder nach anderem Recht abgeschlossen werden?
Ausdruck einer neuen Zeit
Die skeptischen Äusserungen Jesu dem Eigentum gegenüber (Reicher Jüngling, «eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr...», keine Vorräte sammeln usw.) und ihre normative Konkretion im Matthäusevangelium, zeugen meines Erachtens davon, dass Matthäus einen Rechtstext verfasst hatte, nach dem sich die Christusgläubigen in all diesen Unsicherheiten richten sollten. Dabei stellt Matthäus vor allem zwei Dinge heraus; erstens «Lass fahren die eigenen Forderungen, die du anderen gegenüber hast», und zweitens «Erfülle Forderungen von anderen dir gegenüber, selbst wenn sie nicht gerechtfertigt sind». Es ist klar, dass dies zum Ruin selbst der wohlhabenden Christusgläubigen führen musste. Matthäus deutete dies als Ausdruck einer neuen Zeit, die angebrochen ist, und zwar als einer Zeit des «Weggebens» (was das griechische Wort für «vergeben» ja eigentlich bedeutet). Dies stellte Matthäus bereits mit dem Stammbaum Jesu heraus, der sechsmal sieben Generationen umfasst, und demzufolge nun die siebenmal siebte Generation angebrochen ist, also eine «Hall»-Generation. So, wie es nach 49 Jahren ein Halljahr geben sollte, so sollte nun eine Hallgeneration angebrochen sein, in der alle Güter wieder an Gott zurückfallen.
Ergänzend ist zu beachten, dass die Rechtsunsicherheit nicht nur das Obligationen-, Eigentums-, Straf- und Prozessrecht betraf, sondern auch das Familienrecht. Eckart Otto hat beschrieben, wie anlässlich der assyrischen Krise im 8. Jahrhundert v.Chr. die israelitischen Grossfamilien zerfielen und die innerfamiliäre Geschwisterethik deswegen auf die ganze Volksgemeinschaft übertragen werden musste, um soziale Katastrophen zu vermeiden. Seither wurde es möglich, das Volk Gottes als Grossfamilie aus lauter Geschwistern zu denken. Das Matthäusevangelium gibt Zeugnis von einem vergleichbaren Ereignis der Zeit nach der zweiten Tempelzerstörung. Die Berufungsgeschichten aus Mt 4 verdeutlichen eindrücklich, wie die Christusgläubigen aus ihren Herkunftsfamilien gerufen wurden, diese ihre irdischen Väter alleine zurückgelassen haben und nun einer «neuen» Familie angehörten, in der Gott alleine das Recht des pater familias zugestanden wurde, damit auch alle irdischen Güter ihm gehörend gelten mussten und kein privates Eigentum Bestand haben konnte. Die «Verschwendung» des teuren Nardenöls zur Salbung Jesu durch die namenlose Frau in Bethanien, «Armenhausen», macht vor diesem Hintergrund besonders Sinn, denn aller Reichtum gehört Gott und seiner in Christus als Person begründeten Stadt Jerusalem. Zugleich lebte die Bewegung der Christusgläubigen zur Zeit der Evangelisten auch davon, dass sie von Reichen unterhalten wurde, die, indem sie sie unterhielten, selbst den Weg in die Mittellosigkeit auf sich genommen haben («Zöllner Matthäus» vs. «Reicher Jüngling»).
Jeder Franken kehrt mehrfach zurück
Das Selbstverständnis des nach matthäischen Rechtsnormen sich orientierenden Menschen ist das der doppelten Freiheit: Weder gibt es eine Rechtfertigung des Übels aus dem Menschen, noch ist das Gute selbst verdient. Vielmehr fliessen alles Eigentum und aller Reichtum unverdient aus Gott und darum auch unverdient zu ihm zurück. Im täglichen Kirchenmanagement, in dem ich gefordert bin, eine Struktur zu erarbeiten, die (anders, als es aus den Evangelien nahegelegt wird) möglichst nicht in den Konkurs getrieben wird, sondern die Ein- und Auskommen ihrer angestellten Mitarbeitenden sicherstellt, erlebe ich ein Phänomen, das mich immer wieder neu fasziniert, nämlich, dass auch wir Baslerinnen und Basler, die wir nicht mit staatlicher Unterstützung gesegnet sind, in aller Welt Pfarrstellen und Missionarinnen und Missionare unterhalten, und dass dann jeder nach aussen verschenkte Franken mehrfach zurückkommt. Gewiss, auch in der Basler Kirche gibt es Gremien und Gemeinden, in denen die Mittelknappheit Knausern statt Grosszügigkeit auslöst, weil man meint, Ansprüche geltend machen zu können, weil man sie sich «verdient» hat. An vielen Orten erlebe ich aber auch gerade das Gegenteil: Ungebrochen froh verpflichtet man sich für neue Ausgaben, und immer wieder findet das Geld auch den Weg in die leeren Kassen. Jedoch nur, wenn es gelingt, sich damit nicht einen Namen machen zu wollen.
Lukas Kundert ist Professor für Neues Testament an der Universität Basel. Zudem ist er Pfarrer am Basler Münster und Kirchenratspräsident in Basel-Stadt. lukas.kundert@erk-bs.ch
Pfarrer sein in einer der reichsten Kirchgemeinden der Welt. Der Erlenbacher Pfarrer Andreas Cabalzar hat Einblick in die Welt der Superreichen und hat eine differenzierte Sicht entwickelt. Ein Gespräch über Klumpenrisiken, Ferraris und Sozialprojekte.
Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Wie geht die Kirchgemeinde damit um, dass viele ihrer Mitglieder zu den Reichsten der Welt gehören?
Andreas Cabalzar (AC): In unserer Kirchgemeinde gehören 75 Prozent der Mitglieder zu den drei Leitmilieus. Deshalb ist die Kirchgemeinde ein Spiegel der Bevölkerung. Es gibt ein klares Bewusstsein für ökonomische Fragen. In den entscheidenden Gremien sind immer auch Menschen mit unternehmerischem Blick vertreten, die sorgfältig mit dem Reichtum umgehen. Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die den Reichtum als eine Verpflichtung ansehen. So wird mir von der Kirchenpflege immer auch signalisiert: «Wir erwarten von dir, dass du Projekte initiierst als Beitrag der Kirche an die Gesellschaft.»
Bist du gerne Pfarrer in einem solchen Kontext?
AC: Die Stelle passte von meinem Werdegang her. Zuerst habe ich an der Börse gearbeitet. Von daher sind mir Menschen, die in der Wirtschaft arbeiten und erfolgreich sind, vertraut. Für mich als Pfarrer hat der Reichtum der Kirchgemeinde viel ermöglicht. Mein unternehmerischer Geist wurde immer unterstützt. Viele meiner initiierten Sozialprojekte, wären nicht möglich gewesen ohne Anschubfinanzierung von Privatpersonen aus der Kirchgemeinde.
Wie hast du die Akzeptanz erzielt, die du für deine Projekte brauchtest?
AC: Das Engagement für soziale Probleme – besonders im Drogen- und Jugendbereich – hat im Dorf zu grosser Akzeptanz geführt. Familien haben gesehen, dass wir die Probleme der Jugendlichen ernst nehmen und handeln. Wir haben eine regionale Drogenhilfe aufgebaut, ein kantonales Projekt für arbeitslose Jugendliche und später ein betreutes Wohnen für Jugendliche. Nebst der theologischen oder homiletischen Kirchenarbeit ist die soziale Dimension unabdingbar. Auch Kasualien sind entscheidend. Denn in der Oberschicht tut es genauso weh, wenn der Vater stirbt. Viele Familien begleite ich bereits über viele Jahre hinweg. Ich glaube, die neutrale Position der Kirche kann hier Türen öffnen. Als Pfarrer bin ich auch dabei, wenn Masken fallen, wenn Einsamkeit und hoher Leistungsdruck präsent sind. Ausserdem bin ich ein Kontrast zu vielen Kontakten, schlicht weil ich weder Geld will noch jemanden politisch vereinnahmen will. Dafür muss ich aber unvoreingenommen auf den Kontext eingehen, für die Trauung in die Toskana reisen oder für die Taufe ins Engadin.
Ist das eine Grundhaltung von dir?
AC: Grundsätzlich ist es an den Rändern der Gesellschaft überall dasselbe: Arbeitslose oder drogensüchtige Jugendliche wollen radikal ernst genommen werden, wenn du mit ihnen arbeiten willst. Es ist ein evangelischer Auftrag, Menschen ganz anzunehmen. Das gilt auch für die Reichen. Auch ihnen kann ich nicht mit den eigenen Klischees im Kopf begegnen, sondern nur von Mensch zu Mensch und ohne Vorurteile.
Was sind die schönen und die schattigen Seiten der pfarramtlichen Arbeit mit Superreichen?
AC: Es gibt bei der unternehmerischen, intellektuellen Elite äusserst interessante Menschen, die enorm erfolgreich und inspirierend sind. Natürlich liegen in diesen Begegnungen auch eine Herausforderung und intellektuelle Auseinandersetzungen. Ein Teil der Menschen in diesen Milieus hat eine unglaubliche Anspruchshaltung. Das gehört vielleicht zu den Schattenseiten. Ich bin der Dienstleister, ja sogar ein «Angestellter», der die Wünsche erfüllen muss. Das habe ich aber nur selten erlebt. Da gilt es mit Humor zu reagieren und die Arroganz demaskieren.
Wirklich schwierig fand ich aber den Kontrast zwischen meiner ökonomischen Mittelstands-Lebensrealität und den völlig verschobenen Möglichkeiten anderer Familien. Die Freunde meiner Kinder spielen in Bezug auf Ferien, elektronische Gadgets, Kleider in einer völlig anderen Liga. Da kann es zu einer ungesunden Verschiebung der Werte kommen.
Gibt es Unterschiede bei den allerreichsten Kirchenmitgliedern?
AC: Reich ist nicht reich. Die Sinus-Milieustudie ist da sehr erhellend. Die Arrivierten – das ist das alte Geld – sind traditionell und der Kirche zugewandt, die Kirchenzugehörigkeit ist selbstverständlich. Soziales Engagement, Bildung und Kultur gehören ebenfalls dazu. Die Postmateriellen – ein liberal-intellektuelles Milieu – wollen intellektuell und kulturell angesprochen werden. Und es gibt die Modernen Performer, die durch ihre Leistungen zu Geld gekommen sind.
Wir haben uns in Erlenbach intensiv mit der Sinus-Milieustudie befasst und unsere Angebote auf sie ausgerichtet. Dabei kam heraus, dass alle drei Milieus eine Affinität zu Kunst und Kultur haben. Und für alle ist der soziale Aspekt wichtig. Deshalb haben wir die Kulturkirche aufgebaut und daneben grosse Sozialprojekte initiiert. Der intellektuelle Aspekt hat eine grosse Bedeutung.
Gibt es auch Spannungen mit anderen Milieus?
AC: Ja. Die traditionellen Kirchenmilieus sind auch vorhanden – einfach prozentual weniger zahlreich als in anderen Kirchgemeinden. Es gibt eine Spannung zu Kultur und Intellektualität. Milieugerechte Gottesdienste mit zeitgenössischer Kunst und Musik lösen auch Widerstand aus. Und es gibt auch die Schwierigkeit, dass die 75 Prozent Leitmilieus in unserer Kirchgemeinde an Kirchgemeindeversammlungen nicht teilnehmen. Das bringt eine Lähmung in der Veränderungsbereitschaft der Kirchgemeinde. Diese Spannungen sind auch im Dorf zu beobachten. Privilegierte und teure Wohnlagen lösen bei Normalverdienenden Eifersucht und Neid aus, bezahlbarer Wohnraum ist knapp. Das sorgt immer wieder für politische Diskussionen. Brückenschläge gelingen aber beispielsweise über soziale Arbeit.
Ihr habt Versuche gemacht mit Anlässen, um die Austrittwilligkeit der besten Steuerzahler der Kirchgemeine zu vermindern. Haben sich solche Formate bewährt?
AC: Unsere ursprüngliche Idee, nur die besten Steuerzahler einzuladen, hat nicht funktioniert. Wir wissen nämlich gar nicht so genau wer die Reichsten sind. Viele Arrivierte hüten sich davor, ihren Reichtum öffentlich zu machen. Im Gegensatz zu den Performern. Diese Gruppe zeigt ihren Reichtum gerne, zum Beispiel indem sie mit ihrem Ferrari durchs Dorf fahren.
Das Format «Essen und Ethik» war aber erfolgreich. Es gibt zuerst ein von einem aufstrebenden Koch gekochtes Essen, danach einen inhaltlichen Impuls einer prominenten Person oder mit profilierten Persönlichkeiten besetzte Podien. Elementar dabei ist: auf keinen Fall sparen, keine Abstriche in der Qualität, alles muss stilvoll und perfekt vorbereitet sein. Daraus hat sich das gemeindeübergreifendes Format «Werte & Trends» entwickelt. Entscheidend ist sicher auch, dass die Mitglieder in ihrer prägenden Phase als junge Erwachsene gute Kirchenerfahrungen machen.
Unsere Austrittszahlen waren jahrelang stabil. Für viele habliche Leute ist es selbstverständlich, Mitglied der Kirche zu sein. Das verändert sich aber. Ich nehme an, dass sich diese Entwicklung mit der nächsten Generation verstärken wird. Für uns ist das ein Klumpenrisiko. Fünfzig Mitglieder unserer Kirchgemeinde steuern siebzig Prozent der Einnahmen bei.
Die Bibel ist voll von Reichtumskritik. Wie verkündigst du das Evangelium bei einem Publikum, das mit Reichtum gesegnet ist? Kannst du da auch kritisch sein?
AC: Die Kritik wird über die Sozialprojekte implizit transportiert. Das Evangelium setzt das, was am Rande ist, ins Zentrum. Die Gottesdienst-Besucher erwarten, dass ich diese Grundbewegung auch in der Verkündigung benenne. Ich kann also sehr kritisch sein und ich werde nicht zerfleischt, wenn ich gleichzeitig bereit bin, mit einer vorurteilslosen Haltung in den persönlichen Kontakt einzusteigen. Und die Reichen fühlen sich oft auch am Rand. Reichtum kann auch eine Armut werden, zum Beispiel im Bereich der sozialen Beziehungen. Einmal habe ich einen Brief einer Frau erhalten. Da stand drin: «Auch wir Reichen bedürfen der Seelsorge.»
Andreas Cabalzar ist Pfarrer in Erlenbach an der Zürcher «Goldküste». Nach der Schliessung des Platzspitzes in Zürich war er am Aufbau der Dezentralen Drogenhilfe im Bezirk Meilen beteiligt, hat diverse regionale und kantonale Projekte für Jugendliche initiiert, das Scheidungsmännerhaus in Erlenbach aufgebaut und die Kulturkirche in Erlenbach etabliert. Seit Dezember 2018 sitzt Cabalzar im Rollstuhl. pfrcab@bluewin.ch
Es ist unverfügbar, in welche Lebensumstände wir hineingeboren werden, wer wir sind oder was wir haben. Das aber bestimmt wesentlich über unsere Möglichkeiten im Leben. Entscheidend ist so nicht, über welche Ressourcen wir verfügen, sondern was wir damit machen.
Von Friederike Rass
Reichtum geht, so scheint es, oft mit einem Rechtfertigungsbedürfnis einher. Man selbst oder die Familie, in der man steht, hat hart dafür gearbeitet. Oder man ist vielleicht hohe Risiken eingegangen. Oder auch: Das war nicht immer so. Interviews mit finanziell sehr gut gestellten Personen beinhalten oft solche oder ähnliche Elemente. Reichtum einfach zu geniessen, scheint nicht ganz so einfach. Gerade in der Schweiz wird häufig eine fast entschuldigende Haltung eingenommen.
Es ist ein aufschlussreicher Zug: Er signalisiert das Bewusstsein für andere Mitglieder der Gesellschaft, die über weniger Privilegien verfügen. Wenn Reichtum einfach Glück und damit ganz unverdient wäre, wäre er sicher sehr viel schwerer zu verteidigen. Warum sollte ich über ihn verfügen dürfen, wenn es anderen Menschen in derselben Stadt, demselben Land so viel schlechter geht? Um diese Situation auszuhalten, hilft vielleicht das Gefühl, dass dieser Reichtum mir zusteht. Er signalisiert zugleich das Bewusstsein für Reichtum als Ressource. Wer mehr Geld hat, hat mehr Möglichkeiten, mehr Freiheit, mehr Gestaltungsmacht: Ich kann diesen Spielraum für mich selbst einsetzen. Oder ich eröffne damit Beteiligungsräume für diejenigen, die weniger Glück hatten.
Im Grundsatz unverdient
Denn es ist Glück: Dass wir haben, was wir haben und sind, wer wir sind, ist im Grundsatz völlig unverdient. Es ist Geschenk (oder eben auch nicht). Wo und in welche Familiensituation wir geboren sind, bestimmt wesentlich über unsere Perspektive und Möglichkeiten in dieser Welt, darin sind Wissenschaft und Politik sich seit langem einig. Entscheidend ist damit nicht, über welche Ressourcen wir verfügen. Entscheidend ist, was wir damit machen. Und wenn dieser Einsatz für eine gerechte und gute Gesellschaft so einfach wäre, würden wir schon sehr lange in einer gerechten und friedlichen Welt voller glücklicher Menschen leben.
Das Schöne an dieser Herausforderung: Wir möchten es gerne. Die meisten Menschen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, helfen sehr gerne und verzichten auf eigene Privilegien, wenn sie jemanden damit unterstützen können. Wir merken es in Krisensituationen und auch im Alltag in akuten Notsituationen. Entscheidend für diese Hilfsbereitschaft scheint die Unmittelbarkeit und Konkretheit der Situation. Schwierig scheint es zu werden, wenn wir die Situation nur schwer beurteilen können. Wenn wir unsicher sind, wie genau wir helfen können. Wenn wir nicht sicher wissen, ob die Hilfe auch tatsächlich dort ankommt, wo wir es beabsichtigen. Ob es wirklich darauf ankommt, dass gerade wir hier helfen. Und auch Menschen, bei denen wir die falschen Motive für ihr Helfen oder Spenden vermuten, geraten schnell in ein schlechtes Licht.
Es ist ein hoher, da doppelter ethischer Anspruch, den wir hier an uns stellen: Zum einen müssen die Motive unseres Handelns genuin sein. Zum anderen sind die Folgen unseres Handelns, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, entscheidend für seine Bewertung. Es ist ein Anspruch, der in dieser Absolutheit selbst in der Ethik nicht gestellt wird. Vielleicht weil er – zumal in einer so vielschichtigen Zeit wie unserer Gegenwart – helfendes Handeln nahezu unmöglich macht. In der Philosophie als begründende Wissenschaft der Ethik haben wir die Wahl: Orientieren wir uns an den bestmöglichen Motiven unseres Handelns und nehmen in Kauf, dass dieses bisweilen unbeabsichtigte Folgen hat? Oder setzen wir pragmatisch auf den grösstmöglichen Effekt, ungeachtet der Frage, aus welchen Motiven die Unterstützung dafür erfolgt? Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma zu entkommen ist es, nicht zu helfen. Sich zurückzuziehen und, biblisch gesprochen, die anvertrauten Talente zu vergraben. Das Risiko, etwas falsch zu machen, oder sie zu verlieren, scheint vielleicht zu gross, die Welt zu unüberschaubar. Und ohnehin: Als einzelne Individuen können wir die Welt doch nicht retten.
Unsere Gaben einbringen
Gerade in dieser erdrückenden Lage ist das Christentum so stark: Das Wissen um unsere Endlichkeit und Beschränkungen begründet in der christlichen Lehre keine Apathie. Es entlastet: Wir sind Geschöpf, nicht Schöpfer. Es hilft, das Fragmentarische des eigenen Handelns zu erkennen und auszuhalten. Wir pflanzen Apfelbäume, auch wenn die Welt morgen untergehen mag. Und dieses Wissen um unsere fragmentarische Existenz ermutigt, genau darum ins Handeln als Teil der Schöpfung zu treten: Unsere individuellen Gaben sind jeweils genau ein Beitrag zu einer gemeinsamen Aufgabe.
Diese Gaben zu entdecken, zu pflegen und zu verwirklichen ist dabei eine doppelte Aufgabe: Nur wenn wir uns selbst gerecht werden, werden wir auch unserem Nächsten gerecht. Nur wenn wir unserer Nächsten gerecht werden, werden wir uns selbst gerecht – das eine gibt es nicht, ohne das andere. Dass die Ressourcen der Welt so ungleich verteilt sind, ist Teil der Verfehlung, die eigenen Gaben für die Gemeinschaft einzusetzen.
Das Wunderschöne: Es trägt nicht nur zu einer gerechteren und faireren Welt bei. Seinen eigenen Ort zu finden und seine eigene Wirksamkeit in und für diese gemeinsame Aufgabe zu entdecken und aktiv zu erleben, ist ein Geschenk. Und das ist wirklicher Reichtum.
Dr. Friederike Rass hat über die Frage nach «Wahrheit» in philosophischer und theologischer Perspektive promoviert und absolviert derzeit einen Executive Master in Wirtschaft. Sie ist Geschäftsführerin der Stiftung der Evangelischen. Gesellschaft des Kantons Zürich, die Liegenschaften in der Stadt Zürich besitzt, verwaltet und deren Erträge für gemeinnützige Projekte eingesetzt werden. friederike.rass@stiftung-eg.ch
Sie ist reicher als die meisten Menschen in der Schweiz: Sabine Sauter-Brader erzählt im Interview, wie es ist, reich zu sein, mit welchen Vorurteilen Reiche zu kämpfen haben und welche Erwartungen sie an die Kirche von heute hat.
Von Juliane Hartmann
Juliane Hartmann: Ich interviewe Sie, weil Sie «reich» sind – Was verstehen Sie unter «Reichtum»?
Sabine Sauter-Brader (SSB): Ich bin vermögender als die meisten Menschen in der Schweiz – so dass ich mir keine finanziellen Sorgen machen muss und mehr Geld zur Verfügung habe als ich zum täglichen Leben brauche. In diesem Sinne bin ich reich. Mit dem ökonomischen Reichsein kreiert Vermögen auch vielfältige Optionen, mein Leben reich zu gestalten: Unabhängigkeit, Freiheit und Zeit. So habe ich nicht nur Geld und Zeit für mich, sondern auch die Verantwortung, etwas davon der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Ich sehe Reichtum als Gabe und Aufgabe.
Ist das eine Haltung, die unter reichen Menschen allgemein verbreitet ist?
SSB: Wie ich das wahrnehme, fühlen sich vermögende Menschen in der Regel verpflichtet, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Dabei entsteht oft ein Dilemma: wenn das Engagement im Verborgenen und nicht bekannt ist, wird es nicht wahrgenommen – und wenn darüber geredet wird, heisst es, die Person will sich brüsten.
Nach welchen Kriterien setzen Sie selbst Ihr Geld ein?
SSB: Natürlich kommen auch bei mir alle die Kuverts mit Spendenanfragen – wenn mich etwas überzeugt, bin ich grosszügig. Bei grösseren Beträgen muss es eine Herzensangelegenheit sein oder ein persönlicher Bezug.
Wenn jemand Sie als reich bezeichnet – ist das mit Vorurteilen belastet?
SSB: Ich habe damit kein Problem, ich bin reich, das ist für mich kein Makel und es abzustreiten wäre falsche Bescheidenheit. Doch ich definiere mich nicht dadurch. Auch wenn es immer Menschen gibt, die andere nach einem Klischee einteilen. Zugleich habe ich auch Berührungsängste erlebt, zum Beispiel mit den Eltern von Schulkolleg*innen meiner Kinder. Freundschaften habe ich in allen sozialen Schichten.
Von der Kirche wird oft ein Dienst an «den Armen» erwartet – welchen Dienst kann unsere Kirche an vermögenden Menschen leisten?
SSB: Auch vermögende Menschen stehen vor Herausforderungen und Mühen, haben ein Bedürfnis gehört zu werden. Reichtum schützt nicht vor seelischer Not. Die Kirche sollte für alle da sein. Mir war es wichtig, dass unsere Kinder getauft und konfirmiert werden. Seit einiger Zeit besuche ich wieder regelmässig Gottesdienste, und das finde ich sehr schön. Früher hatte das weniger Platz. Doch die Kirche war immer wichtig in meinem Leben.
Auf welche Weise kann die Kirche Ihr Leben bereichern?
SSB: Mein Glaube gibt mir Halt. Intellektuell inspirierende Gottesdienste sind wichtige Momente des Innehaltens. Die Taufen meiner Kinder, ihre Konfirmationen, Hochzeiten, schaffen eine bereichernde Verbundenheit. Achtsam und würdig gestaltete Abdankungen begleiten in der Trauer. Die Kirche war aber auch ein Ort, wo ich mich für die Gemeinschaft einbringen konnte, beim Frauenbund, Suppenzmittag, Kinderhüeti. Dabei war mir auch wichtig, dass ein Suppenzmittag so gut organisiert wird wie ein Businessapéro mit 100 Personen.
Welche Erwartungen haben Sie an Pfarrerinnen und Pfarrer?
SSB: Bei aller Veränderung sollen Traditionen und Werte weiterhin gepflegt werden. Es braucht grosse Sorgfalt bei Kasualien und Gottesdiensten. Bitte keine Effekthascherei oder «Party-Pfarrpersonen». Ich erwarte unvoreingenommenes Begegnen, unabhängig der sozialen Schicht des Kirchenmitglieds.
Eine Abstimmungsparole am Kirchturm entspricht nicht meinem Verständnis von reformierter Tradition: Kirche soll den Dialog fördern und nicht spalten. Zum Beispiel bei der Konzernverantwortungsinitiative. Ich kann akzeptieren, dass eine Kirche dies unterstützt. Doch die Naivität der Kirche angesichts der Kirchenaustritte im Anschluss hat mich schon erstaunt. Das hätte man doch wissen können!
Wo in der kirchlichen Arbeit sehen Sie die Notwendigkeit zu Innovation?
SSB: Ich wünsche mir eine Kirche, die sich nicht vom Zeitgeist verunsichern lässt, sondern mit gelebter Nächstenliebe und einem klaren Auftritt Sicherheit vermittelt und einen Fokus auf die Kernaufgaben legt. Kirche sollte verlässlich und im positiven Sinn vorhersehbar sein. Dann ist sie der stabile Teil des Rahmens, den jeder Mensch braucht: Zum Beispiel mit einem klaren Ablauf im Gottesdienst, der einem Luft gibt, um bei sich zu sein. Die Predigt kann natürlich gern überraschen… Doch es braucht gerade auch heute klare Orientierung und nicht Öffnung nach allen Seiten, mit dem Effekt der Beliebigkeit statt theologischem Profil. In der Kirche sollte ein Bewusstsein wachsen, dass die bestehenden Herausforderungen und Aufgaben im sozialen Bereich – in deren Bewältigung sie eine immens wichtige Rolle spielt – nur wahrgenommen werden können, wenn auch die vermögenden Mitglieder im Boot sind und stützen.
Wenn Sie auf einmal kein Geld mehr hätten, an was würden Sie auf jeden Fall festhalten?
SSB: Ich bräuchte so viel Geld, dass ich Miete und Essen zahlen kann. Vieles von dem, was ich jetzt mache, würde mir vielleicht nicht fehlen: Ich kann sehr gut für mich sein, und was mir am Wertvollsten ist, Begegnungen mit Menschen und in der Natur sein, das kostet nichts. Mein Haus oder andere Dinge definieren mich nicht. Vieles, was Besitz ist, ist ja auch Ballast. Wenn ich morgen wieder arbeiten müsste, wäre das für mich kein Anlass zu Angst und Schrecken.
Haben Sie noch einen Wunsch?
SSB: Ich würde mir wünschen, dass die kirchlichen Institutionen vermehrt den Mut hätten, auf Leute wie mich zuzugehen, so dass wir uns einbringen können. Es gibt Menschen, die sich engagieren würden, aber das von sich aus nicht tun. Es braucht da einfach direkte Anfragen. Menschen, die sich sonst nicht so auf dem Radar der Kirche fühlen, merken auf einmal, da hat jemand von der Kirche an mich gedacht. So wird ein Kontakt hergestellt.
Sabine Sauter ist vermögend. Die 59-jährige Kauffrau lebt in Zug und engagiert sich seit Jahren ehrenamtlich in verschiedenen gemeinnützigen Organisationen und politischen Ämtern. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern und Grossmutter von zwei Mädchen. sabine_sauter_brader@yahoo.com
18-jährige Milliardäre sind für mich der eindeutigste Beweis, dass man durch harte Arbeit einfach alles schaffen kann – hier könnte diese Kolumne enden. Doch da auch ich über den ersten Satz nur lachen kann, schreibe ich weiter: Qatar Airways war einer der Hauptsponsoren der diesjährigen Fussball-EM. Qatar Airways gehört der Diktatur Katar, einem der reichsten Länder der Welt. 2022 findet die WM, Dank des in der Schweiz ansässigen, steuerbefreiten Humanismusvereins FIFA, in Katar statt. Bislang hat Katar dafür über 6000 Arbeitssklaven sterben lassen. Ein Glück hat Sport nichts mit Geld und Politik zu tun. Hier könnte diese Kolumne enden. Doch … im Ernst: Wie kann man noch, ohne ernsthaft zu verzweifeln, über offensichtlich strukturelle Ungerechtigkeit schreiben? Solange die Mächtigsten extreme Ungleichheit schönredend hinnehmen, um nicht zu sagen weiter vorantreiben, wird es sie geben. Wer verzichtet schon freiwillig auf Vorherrschaft?
Da ich trotz allem nicht kapitulieren will: Eine erste Minimalforderung: Ich verlange, dass alle Medien, wenn sie über globale Ungleichheit berichten, fortan nicht mehr von Wirtschaftsanwälten, sondern konsequent von Schlupflochfindern sprechen. Im Sinne der Wahrheitspflicht. Das Wort gegen den globalen Reichensteuerverminderungswettbewerb? Eine Mücke, die einen Tornado zu Tode stechen will – ja, eine missratene Metapher.
Ein weiterer Versuch: Nachdem mir gestern eine Teetasse runterfiel, fühlte ich mich wie ein Hedgefonds-Manager, der 5 Milliarden in den Sand gesetzt hatte. Kurz: null Problemo. Boden aufwischen, Bonus einstreichen (Schokokeks), weitermachen wie bislang (neue Tasse durchs Homeoffice balancieren). Was ich mit all dem sagen will? Auch das jüngste, sogenannte Credit-Suisse-Debakel, ist eben kein Debakel, sondern System, sprich skandalöse Normalität. Deshalb wird alles so bleiben, wie es ist.
Jürg Halter ist für vier Ausgaben unser neuer Kolumnist. Halter ist Schriftsteller, Lyriker, Spoken Word Artist und Speaker und gehört zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. 2018 ist sein Romandebüt «Erwachen im 21. Jahrhundert» erschienen, welches mit dem Literaturpreis des Kantons Bern ausgezeichnet wurde. Anfang dieses Jahres folgte der Gedichtband «Gemeinsame Sprache». Zudem ist er auch als Speaker und Blick-von-aussen-Experte unterwegs.
www.juerghalter.com
Steter Tropfen höhlt den Stein - Als Tochter eines russischen Diplomatenpaares wurde ich atheistisch erzogen. Dennoch liessen mich meine Eltern mit acht Jahren taufen. Vom Priester bekam ich eine Ikone der heiligen Anna in die Hand gedrückt. Wenn ich fortan in Not war, zündete ich eine Kerze vor der Ikone an, stellte mich davor auf und sprach ein Gebet. Das gab mir Ruhe und Zuversicht.
Diese kindliche Religiosität hielt jedoch den kritischen Fragen nicht stand, die ich als Jugendliche stellte und die mir niemand beantwortete. Ich studierte Jura und lernte im Philosophieunterricht: «Gott ist tot.» Erst meine deutsche Schwiegermutter, eine überzeugte Christin, vermochte daran Zweifel zu wecken. Die Kraft, die sie in langwierigen Krebserkrankungen aus dem Glauben schöpfte, beeindruckte mich.
Steter Tropfen höhlt den Stein. Die Schwiegermutter überredete mich, unser Kind taufen zu lassen. In der schlichten reformierten Kirche erkannte ich das Gefühl von damals wieder, als ich zur heiligen Anna betete: stille Geborgenheit. Meine Schwiegermutter starb einige Zeit später, doch der Funke, der auf mich übergesprungen war, ist nicht erlöscht. Inzwischen habe ich meine Tätigkeit für die Schweizer Börse aufgegeben, arbeite als Jugendarbeiterin in der Kirche und studiere Theologie. Zweifel und Fragen sind immer noch da. Aber ich sehe Gottes Spuren auf dem Weg, der mich hierhergebracht hat.
