Liebe Leserinnen, liebe Leser
Durchs Land schreiten Freiheitstrychler. Sie wollen frei sein von einschränkenden Massnahmen. Doch mit der Freiheit ist es kompliziert. Im reformatorischen Sinn hat Freiheit nichts mit der menschlichen Autonomie zu tun. Die Hirnforschung und Martin Luther kommen auf unterschiedlichen Wegen zu diesem Schluss. Christina Aus der Au zeigt, dass evangelische Freiheit die Freiheit vom «fetten, erbarmungslosen Ego» bedeutet. Vielleicht findet deshalb die Gefängnisseelsorgerin die Freiheit hinter Gittern. Ähnlich paradox gestaltet sich die reformierte Freiheit in der Liturgie. Ralph Kunz fragt, ob es eine liturgisch wildwüchsige Kirche noch braucht. Und wie ist das mit den freien Ritualberatenden? Wir porträtieren ein Berner Projekt, das Marktanteile zurückgewinnen will. Lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf – und lesen Sie!
Thomas Schaufelberger,
Leiter A+W
Wie frei sind die Reformierten? Während sich die einen vor einer liturgischen Verwahrlosung fürchten, freuen sich die anderen über die Freiheit Neues auszuprobieren. Die Vielfalt zeigt sich an Orten und Zeiten, die sich nicht direkt erschliessen.
Von Ralph Kurz
Vor einigen Jahren erschien das kleine Büchlein «Plädoyer für den Wildwuchs», in dem ich einerseits für das Experiment mit Formaten und andererseits gegen die Verwahrlosung der Form votierte. Meine Absicht war es, den Freiraum, den die reformierte Tradition bietet, im Stil eines Plädoyers zu verteidigen. Ich wollte aber auch auf das Fundament verweisen, das die Vielfalt ermöglicht. Als dieses Fundament kommt die Sammlung der so genannten «Gerüste» in Frage, die unter der Rubrik «Gottesdienstordnungen» im Reformierten Gesangbuch (RG 150 – 153) abgedruckt sind. In «Plädoyer für den Wildwuchs» wird anhand von Praxisbeispielen gezeigt, was neben dem klassischen Sonntagmorgenritus im Garten der Liturgie gewachsen ist.
Seit 2006 wurde ich immer wieder auf die Publikation angesprochen – in der Regel von Leuten, die das Buch nicht gelesen haben. (Dass man Titel von Büchern nennt, die man nicht gelesen hat, ist die Regel.) Offensichtlich weckt die Wildwuchs-Metapher Befürchtungen. Zum Beispiel die Angst, dass es die Reformierten mit der liturgischen Freiheit zu weit treiben und eine Art religiöser Dschungel entstehen könnte. Für andere verspricht das «Wilde» mehr Fantasie und das Versprechen, Neues auszuprobieren. Was trifft zu? Haben wir die bunte Vielfalt? Herrscht das rituelle Chaos?
Vermutlich weder das Eine noch das Andere. Was wir sehen, ist eher ein Schrebergarten, eine einigermassen übersichtliche, familienähnliche und erwartbare Diversität, die sich – verglichen mit der Wildnis – in Grenzen hält. Wer sich die Mühe macht und querbeet die Gottesdienstangebote der Kirchgemeinden studiert, wird mit Ernüchterung (oder Erleichterung) feststellen, dass es wenig Unkraut, kaum Neophyten und viel lokales Gemüse gibt, das ähnlich aussieht und gleich schmeckt. Offensichtlich sind die Regeln des Vollzugs nicht beliebig variabel und offensichtlich bleiben bestimmte Ziel- bzw. Stilgruppen gegenüber einer gottesdienstlichen Eingemeindung widerständig. Grosso Modo hat sich der Sonntagsmorgen-gottesdienst als Hort und Ort der Tradition gehalten. Alles, was sonst noch läuft, läuft tendenziell eher am Rand unter «ferner liefen». Und das, was sich dort liturgisch zeigt, unterscheidet sich nicht markant von dem, was schon vor 20 Jahren als «neu» oder «alternativ» angesagt war.
Im Beet der Gewohnheit
Alles beim Alten? Oder täuscht der erste Eindruck? Ich meine, die Vielfalt sei grösser, als man meint, aber sie zeigt sich an Orten und zu Zeiten, die sich nicht direkt erschliessen. Wenn ich den Zeitraum der letzten 15 Jahre in den Blick nehme, erkenne ich zwei Entwicklungen: Zum einen die Angebote, die über die Social Media direkt zum User gelangen. Ich denke an das Podcast- und nicht an das Broadcast-Format. Gemeint ist das persönliche Profil von Sendungen, die nicht alle, sondern eine bestimmte Gruppe erreichen – je nach technischen Möglichkeiten mit mehr oder weniger Interaktions- und Partizipationsoptionen. Wenn man Gottesdienst, Gebet und Predigt digital weitet, zeigt sich in diesen Angeboten tatsächlich eine neue Form der Kommunikation des Evangeliums. Dennoch bleiben auch hier basale Gegebenheiten der rituellen Begegnung in Geltung. Man kann die klassischen Fünf-Schritte der Predigtliturgie (RG 150) auch in diesen Formaten finden.
Ein zweites Phänomen, das sich nur mit einer intensiveren Recherche entdecken lässt, sind alternative Sozialgestalten der gottesdienstlichen Versammlung. Eine Gemeinde, die sich in einem Kirchengebäude versammelt, um das Evangelium zu teilen, bleibt, um das Gartenbild noch einmal zu verwenden, im «Beet» der Gewohnheit. Ob Jazz oder Bach, Hill Song oder Taizé gespielt wird, macht zwar atmosphärisch einen Unterschied, aber die Bewegung im Raum und die Abfolge der liturgischen Schritte lassen sich nicht endlos variieren. Anders verhält es sich, wenn man tatsächlich im Garten feiert. Oder an einer Bar. Oder auf einem Berggipfel.
In meinem Bekanntenkreis haben sich einige, die sich als Christenmenschen verstehen, vom Gemeindegottesdienst gleich welcher Couleur verabschiedet. Sie ziehen es vor, mit anderen unterwegs zu sein und dann zu feiern, wenn die Feste fallen.
Zitat: Um die Freiheit auszukosten, braucht es die überschaubare Gemeinschaft.
Der «digital formatierte Gottesdienst» und die «Feier bei Gelegenheit» sind typischerweise Gruppenphänomene. Um die Freiheit auszukosten, braucht es die überschaubare Gemeinschaft, die sich unkompliziert auf ein Ritual einigen kann, und es braucht die Befreiung von der öffentlichen Versammlung am Ort, die in ihrer Gestaltungsfreiheit natürlich begrenzt ist.
Ich bin so frei, nachzufragen: Soll die Kirche diese Trends fördern? Brauchen die von Raum- und Rituszwängen Befreiten überhaupt noch Kirche? Sind diejenigen, die nach ihrer eigenen Fasson feiern, am Ende seliger, wenn sie den kirchlichen Schrebergarten hinter sich lassen? Ich kann die Fragen hier nicht beantworten. Das lässt das enge Beet von 5000 Zeichen nicht zu. Mein Fazit ist ein Plädoyer für die liturgietheologische Debatte. Lasst sie uns führen!
Prof. Dr. Ralph Kunz ist an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Gottesdienst, Seelsorge und Gemeindeaufbau. ralph.kunz@theol.uzh.ch
Menschen im Gefängnis ist die Freiheit entzogen worden. Können sie sich dennoch frei fühlen? Franziska Bangerter Lindt war über zwanzig Jahre lang Gefängnisseelsorgerin: Frei-Sein ist ein vielschichtiges Thema.
Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Wie reagieren Menschen auf einen Freiheitsentzug?
Franziska Bangerter Lindt (FBL): Der Freiheitsentzug ist eine einschneidende Erfahrung. Wenn jemand in Untersuchungshaft kommt, darf die Person noch ein Telefongespräch führen, um jemanden über den eigenen Verbleib zu benachrichtigen. Dann wird sie auf Drogen und Waffen untersucht und muss sich ausziehen. Das wird oft als demütigend erlebt. Ab diesem Moment gibt es keinen Kontakt mehr nach draussen. Die Inhaftierten sitzen 22, 23 Stunden in einer Zelle. Einige bekommen in dieser Situation Platzangst oder Atemnot. Dazu kommt eine grosse Unsicherheit: Ängste, wie die Familie auf die Verhaftung reagieren wird, dass die Arbeitsstelle oder Wohnung verloren geht. Die Angehörigen distanzieren sich oft oder können den Kontakt nicht aufrechterhalten. Auch die Anzahl Freunde schrumpft radikal. Das ist schmerzhaft.
Wie geht es nach einer Untersuchungshaft weiter? Gibt es innere Phasen während einer Haft?
FBL: Zuerst herrscht meist Wut und Empörung. Oft bagatellisieren die Inhaftierten ihr Delikt oder sie fühlen sich zu Unrecht eingesperrt. Mit der Zeit beginnt die Reflexion. Sie fragen sich, wieso es zu ihrer Situation gekommen ist, und die Einsicht reift, dass «ich wirklich Mist gebaut habe». Mit dieser Erkenntnis können Gefangene ihre Haft als Teil der Strafe betrachten und besser akzeptieren. Vor dem Gerichtsprozess sind die meisten nervös. Das Urteil kann entlastend wirken. Es kann eine Perspektive aufgebaut werden, sie können Strichlein machen bis zum Haftende. Viele versuchen sich auf die Freiheit vorzubereiten, indem sie Kurse besuchen oder frühzeitig Kontakte aufnehmen, um Arbeitsstellen oder ein soziales Netz zu organisieren. Dazu kommt, dass der Alltag im Strafvollzug stark geregelt ist. Der Tag besteht aus Essen, Arbeiten, Freizeit und Zelleneinschluss.
Wie ist das bei Menschen, die «lebenslänglich» im Gefängnis oder gar verwahrt sind?
FBL: Für einen dieser Menschen, die ich begleitet habe, war es eine Art Todesstrafe auf Raten. Weil seine Taten so schlimm sind und er auch rückfällig geworden ist, wollten seine Bezugspersonen nichts mehr von ihm wissen. Die Seelsorgerin ist dann fast die einzige Person, die noch mit ihm spricht. Das ist deprimierend und es kommt oft die Frage auf, ob ein Suizid ein Ausweg wäre. Momentan ist eine Freitodbegleitung in den Gefängnissen nicht möglich. Das könnte sich aber ändern. Für einige unterscheidet sich dieser Ablauf nicht stark von ihrem früheren Leben.
Was passiert, wenn nach der Gefangenschaft die Freiheit wieder kommt?
FBL: Einige Inhaftierte haben Angst vor der Freiheit. Denn im Gefängnis wird ihnen vieles abgenommen: Rechnungen werden bezahlt, es gibt Arbeit, es braucht keinen Einkauf und man ist geschützt von den Anforderungen der Welt: Für viele ist die Wohnungs- und Arbeitssuche nach der Haft – trotz Unterstützung – sehr anspruchsvoll und frustrierend. Daran sieht man auch, wie ausschliessend unsere Leistungsgesellschaft ist. Wer keinen lupenreinen Lebenslauf hat, hat wenig Chancen. Einmal hat jemand nach dreissig Jahren Haft kurz vor der Entlassung wieder Mist gebaut. Ich habe schnell begriffen, dass dies kein Zufall war. Das Gefängnis ist zu seiner Heimat geworden. Er fand sich draussen nicht mehr zurecht.
Gibt es biblische Bilder, die für Gefangene besonders hilfreich sind?
FBL: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn spricht viele an– 96 Prozent der Gefangenen sind Männer. Auch die Psalmen haben eine erstaunliche Wirkung, weil sie die Gefühle von Verlorenheit, Verzweiflung und Sehnsucht nach Geborgenheit transportieren. Diese Worte bringen zum Ausdruck, was die Häftlinge selbst empfinden. Das funktioniert auch bei Gottesdiensten eindrücklich. Ich lasse sie biblische Texte in ihrer Muttersprache vorlesen und gebe sie ihnen im Vorfeld. Manche lernen sie auswendig, und rezitieren sie dann frei. Sie sind in diesem Moment stolz und haben zuweilen Tränen in den Augen.
Haben Sie in Ihrer seelsorgerlichen Arbeit Menschen im Gefängnis angetroffen, die innerlich frei waren – auch wenn sie gefangen sind?
FBL: Mir kommt jemand ist den Sinn, der eine lange Haftstrafe zu verbüssen hatte. Zuerst hat er sein Delikt stark bagatellisiert und musste eine Therapie machen. Mit den Jahren versuchte er sich einzufühlen in seine Opfer. Er lernte Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und bereute seine Tat zutiefst. Er hat sich der Bibel zugewendet und sich dann zur katholischen Kirche hingezogen gefühlt. Durch einen Kontakt mit einem Kloster konnte er Hafturlaub im Kloster machen und am Klosterleben teilnehmen. Wenn ich ihn heute antreffe, dann geht er aufgerichtet, er blickt einem in die Augen, ist offen und wirkt mit sich selbst im Frieden.
Braucht es Vergebung, Versöhnung, Schuldeingeständnis, um zu einem solchen «freien» Zustand im Gefängnis zu kommen?
FBL: Notwendig ist auf jeden Fall, dass jemand Delikte nicht bagatellisiert, Verantwortung für seine Taten übernimmt und bereut. Manchmal wollen die Täter nicht nur Vergebung von Gott, sondern auch von den Opfern. Das ist nicht immer möglich. Das Opfer hat das Recht, nicht oder nicht so schnell zu vergeben. Da darf es keinen Druck auf die Opfer geben. Der Weg ist lang und schmerzhaft.
Hat Ihre Arbeit Ihren Blick auf das Frei-sein der Menschen ausserhalb des Gefängnisses verändert?
FBL: Ich bin mit Urteilen zurückhaltender geworden. Das Leben ist vielschichtiger und widersprüchlicher als oft gedacht. Und es kann schnell auch anders sein. Deshalb sehe ich auch das Widersprüchliche ausserhalb des Gefängnisses. Wenn jemand völlig in einer Spielsucht gefangen ist, so engt das seine Beziehungen ein und belastet sie. Wir alle leben mit familiären, wirtschaftlichen oder kulturellen Zwängen und müssen immer wieder überlegen, ob wir etwas verändern können oder wollen. Das Thema gilt für mich auch für die Corona-Diskussion: Freiheit hat Grenzen. Ich kann nicht meine Freiheit ausleben auf Kosten der Schwächeren. Es geht um ein Leben in Freiheit und Würde mit Rücksicht auf meine Mitmenschen.
Franziska Bangerter Lindt (65) ist Theologin. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Gemeindepfarrerin in Biel/Bienne und danach bei der Fachstelle Migration der Kirchen BeJuSo. Nach ihrer Ausbildung in Spital- und Gefängnisseelsorge war sie als Gefängnisseelsorgerin in verschiedenen Haftanstalten in Basel-Stadt und im Kanton Bern tätig. Seit zehn Monaten ist sie pensioniert und begeisterte Grossmutter. bangerter-lindt@bluewin.ch
Eine kirchliche Ritualagentur bietet in der Stadt Bern demnächst Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen an. Warum es dieses Angebot braucht und was Gemeindepfarrerinnen den freien Ritualbegleitern voraushaben, berichten Barbara Schmutz und Christian Walti.
Von Sara Stöcklin-Kaldewey
«Wer bei der Ritualagentur mitmachen will, muss sich bewusst sein, dass wir uns hier freiwillig mehr Arbeit aufhalsen», erklärt Christian Walti lachend. Gemeinsam mit drei anderen Gemeindepfarrerinnen und -pfarrern der Stadt Bern hat er die kirchliche Ritualagentur gegründet, diedemnächst mit einer Website den unkomplizierten Zugang zu Kasualien ermöglicht. «Mitglieder, denen die eigene Kirche fremd ist, sollen nicht erst lange herumtelefonieren müssen, bevor sie unser Angebot nutzen können», findet Mitinitiantin Barbara Schmutz.
Der Kasualienanteil an der pfarramtlichen Tätigkeit ist seit den 80er - Jahren etwa um die Hälfte zurückgegangen. An einer persönlichen und individuellen Ritualbegleitung sind Menschen aber mehr denn je interessiert. Ob sie diese bei ihrer Ortsgemeinde erhalten, wissen sie nicht, wenn die Verbundenheit fehlt und sie die Pfarrerin nicht kennen. Die Person zu finden, die sich für sie zuständig fühlt, erweist sich zudem oft als mühselig. Hier setzt die Idee der Ritualagentur an. «Wir machen genau das Gleiche wie bisher: Menschen in ihren Bedürfnissen wahrnehmen und individuell begleiten», sagt Christian Walti. «Aber wir machen dieses Angebot transparent für alle. Nicht nur diejenigen, die mich bei einer Hochzeit erlebt haben oder persönlich kennen, sollen meine Dienstleistung inAnspruch nehmen können.»
«Wir sind keine Wedding Planner»
Pfarrerinnen und Pfarrer, die bei der Ritualagentur mitmachen, stellen sich auf einer Website vor und tragen ein, wann und wie oft sie verfügbar sind. Die Nutzerinnen und Nutzer der Plattform können über eine Terminsuche nach verfügbaren Personen suchen, nach dem gewünschten Ritual filtern oder den Pfarrer kontaktieren, der ihnen sympathisch erscheint. Alles Weitere wird im persönlichen Gespräch geklärt. «Wir sind keine Wedding Planner», hält Barbara Schmutz fest. «Aber wir haben Erfahrung und viele gute Kontakte, etwa zu Musikerinnen. Die vermitteln wir natürlich gerne.» Wie viel Aufwand und Anfahrtsweg drin liegt – ob etwa eine Trauung auf dem Jungfraujoch erfolgen kann – entscheidet jede Pfarrerin, jeder Pfarrer selbst.
Da die beteiligten Pfarrerinnen und Pfarrer sich im Rahmen ihrer bestehenden Anstellungen bei der kirchlichen Ritualagentur engagieren, ist das Angebot für Kirchenmitglieder kostenlos. «Auch hier gilt: wir machen es nicht anders als sonst!», betont Christian Walti. Kasualien gehören für ihn zum «Service public» der Kirchen, zum Dienst für die Allgemeinheit. Nicht-Mitgliedern wird eine Spende an eine kirchliche Institution empfohlen.
Den Spielraum ausnutzen
Hebelt die Ritualagentur mit diesem Angebot die Parochialstruktur aus? «Sagen wir es so: wir nutzen den Spielraum innerhalb der Parochialstruktur maximal aus», meint Christian Walti. Barbara Schmutz ergänzt: «Wir wollen für die Leute das Beste herausholen, was im bestehenden System möglich ist.»
Dass die Ritualagentur mit ihrem Angebot die Ortsgemeinden konkurrenziert, ist für das Team eine verkürzte Sichtweise. Als Barbara Schmutz von ihrer Coiffeuse gebeten wurde, sie in ihrer Heimatkirche zu trauen, hat sie ihr empfohlen, zunächst einmal den dortigen Pfarrer zu kontaktieren. «Mit diesem verstand sie sich dann so gut, dass sie sich am Ende von ihm trauen liess. Das hat mich gefreut!» Die Ritualagentur wolle niemandem etwas wegnehmen, sondern eine niederschwellige Ergänzung zum bisherigen Angebot sein.
Dass die Kirche den Menschen etwas zu bieten hat, was sie bei freien Ritualbegleitenden nicht finden, ist die tiefe Überzeugung der Initianten. «Wir nehmen alle vier einen Unique Selling Point im kirchlichen Kasualienwesen wahr», stellt Christian Walti fest. «Es ist unsere Eingebundenheit in die Gemeinde. Wir sind vernetzt, nahe am Leben, präsent im Quartier, verbunden mit der Gesellschaft. Wir gestalten nicht nur Rituale, sondern sind auch Seelsorgende. Wir bekommen mit, was die Leute bewegt.»
Kaum jemand ist so divers in Kontakt mit Menschen als Gemeindepfarrerinnen und -pfarrer. Gleichzeitig sind reformierte Pfarrerinnen und Pfarrer frei genug, um auf individuelle Wünsche eingehen zu können und auch den Glauben und die christliche Tradition auf eine Weise ins Spiel zu bringen, die bereichert und anschlussfähig ist. «Letzten Samstag habe ich eine Trauung auf einem Bauernhof durchgeführt», erzählt Barbara Schmutz. «Da waren viele junge Leute, Alternative, kritisch denkende Hipster, und niemand hat sich am gottesdienstlichen Rahmen oder am Gebet gestört. Sie schätzen den Tiefgang, den das Ritual dadurch erhält und der einen Mehrwert bietet im Vergleich zu freien Ritualbegleitungen.»
Eine Frage des Berufsethos
Aufgrund dieser Überzeugung war es dem Team wichtig, die Ritualagentur unter dem Dach der Kirche zu etablieren. «Es ist eine Win-win-Situation », meint Christian Walti. «Wenn freiere Rituale unter dem Label der reformierten Kirche angeboten werden können, wächst die Verbundenheit mit der Institution.» Der Pfarrer sieht nicht nur eine Chance vertan, sondern auch die Kollegialität verletzt, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer ihre Dienstleistungen nebenberuflich auf dem freien Markt anbieten und dafür Geld verlangen. Barbara Schmutz bekräftigt: «Ein Konkurrenzverbot wie in der Wirtschaft haben wir nicht, aber es ist für mich eine Frage des Berufsethos.»
Ist es die Vision der Ritualagentur, zu einem schweizweiten Angebot zu werden? «Wir backen zunächst mal kleine Brötchen und starten als Angebot für die Stadt Bern», sagt Barbara Schmutz. Christian Walti wirft ein: «Wenn die Idee Anklang findet, kann sie gerne über Bern hinauswachsen!»
Barbara Schmutz ist Pfarrerin in den Kirchgemeinden Johannes und Markus in Bern. barbara.schmutz@refbern.ch
Christian Walti ist Pfarrer in der Kirchgemeinde Frieden, ebenfalls in Bern. christian.walti@refbern.ch
Der Streit um die Freiheit ist nicht neu. Der Mensch kann sich nicht frei entscheiden – so legen es Ergebnisse aus der Hirnforschung nahe. Das hat damals schon Martin Luther vertreten. Der reformatorische Freiheitsbegriff hat allerdings mit Autonomie und Handlungsfreiheit nichts zu tun.
Von Christina Aus der Au
«Zur Freiheit hat uns Christus befreit», schreibt Paulus. Diese Freiheit ist bei uns Reformierten zum Zentralbegriff geworden! Frei von Autoritäten («Selber Denken. Die Reformierten») und frei von dogmatischen Zwängen (der Streit um die Verbindlichkeit des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im 19. Jh. begann in der reformierten Schweiz). Und nun sind wir ganz und gar frei in unserem Glauben. So lehnt auch die Liberale Fraktion der Zürcher Synode «jegliche Art von Fremdbestimmung ab und betont die Eigenverantwortung der Gläubigen sowie die individuelle Glaubens-und Gewissensfreiheit».
Der Freiheitbegriff ist allerdings seit einigen Jahrzehnten auch unter Beschuss. Der Neurowissenschaftler Benjamin Libet konnte in den 80er - Jahren bei seinen Versuchspersonen neuronale Aktivität im Gehirn schon vor einer bewussten Entscheidung nachweisen. Wenn sich mein Gehirn aber schon vor meinem Entscheid zur Handlung bereit macht, ist es dann nicht Illusion zu denken, ich hätte da selbstbestimmt irgendetwas entschieden?
Andere Experimente stellten Zusammenhänge her zwischen epileptischen Schläfenlappens und der Erfahrung der Präsenz Gottes und – ganz aktuell – dem sogenannten «periaquäduktalen Grau» (auch bekannt als Migräne- Zentrum) und dem Sinn für Spiritualität. Wir können nur nachvollziehen, wozu das Gehirn längst schon die Weichen gestellt hat und sind dann eben so oder anders religiös musikalisch – oder gar nicht. Vor dieser Einbettung in physische Kausalzusammenhänge bleibt auch für die Freiheit des Glaubens nicht mehr viel Raum.
Der Wille ist ein Reittier
Streit um die Freiheit ist nicht neu. Darüber hatte der Reformator Martin Luther schon 1525 mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam gestritten. Allerdings musste dort die menschliche Freiheit nicht vor dem Zugriff einer allgegenwärtigen physikalischen Kausalität bewahrt werden, sie hatte Gottes Allwissenheit und Allmacht gegen sich. Diese steht in schärfstem Gegensatz zu unserem freien Willen, schreibt Luther in seiner Schrift «Vom unfreien Willen». Wenn Gott nämlich alles schon vorher weiss und tut, wo hat es denn noch Platz für eine freie Handlung?
Nirgends – und so verwirft Luther das Vermögen des menschlichen Willens, durch das der Mensch sich demjenigen zu- oder von dem abwenden kann, was ihn zum ewigen Heil führt. Der menschliche Wille ist ein Reittier, das entweder von Gott oder Satan geritten wird, und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, einen dieser beiden zu wählen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander um das Reittier. Wahre Freiheit besteht für Luther nicht darin, dass der menschliche Wille fortan ungeritten seinen eigenen Weg geht, sondern dass er sich von dem einen Reiter – Gott – bestimmen lässt.
Luthers Freiheitsbegriff ist damit radikal anders als derjenige der Neurowissenschaften – keine Lücke in einer ansonsten lückenlosen Kausalkette, sondern die Befreiung des um das eigene Ich zentrierten Willen. Dies führt nämlich zum in sich selbst verkrümmten Menschen, der die eigene Einheit in beständigem Selbstbezug immer wieder selbst herstellen muss. Alles muss dann in seinem Nutzen für mich wahrgenommen werden, «ich» muss immer und überall vorkommen, damit ich mir selbst nicht verloren gehe. Die Ursünde besteht darin, dass der Mensch nicht von sich selbst loskommt. Oder moderner: Dass ich mich immer neu erfinden, immer neu verwirklichen muss, damit mein Leben einen Sinn hat.
Die Freiheit zur Selbstbestimmung ist zu einem Zwang zur Selbstbestimmung geworden, zu einem ständigen Kreisen um das eigene Ich. Alle meine Wahrnehmungen, alle meine Beziehungen, alle meine Aktivitäten sind von meinem «fetten, erbarmungslosen Ego» eingefärbt, wie es die englische (und atheistische) Philosophin Iris Murdoch einmal formuliert hat. Mein Ego bestimmt meinen Willen durch und durch, und das ist Zwang in seiner höchsten Form. Das ist Sünde. Befreiung finden wir nur, so Luther, wenn wir von unserem Ich erlöst, und das heißt, von Gott besessen und geritten werden.
Freiheit vom eigenen Ich
Im Unterschied zu einer philosophischen Sicht des Menschen, wo die Handlungen einer Person aus der Person heraus begründet und also ihre Freiheit an ihrer eigenen Willensbestimmung festgemacht werden, ist bei Luther gerade nicht die Person der Ausgangspunkt. Grundlage ist nicht das Ich, sondern Gott, und dort sind auch die Person und ihre Willensbestimmungen begründet. Wenn der Mensch dies erkennt – und nur dann –, kann er getrost alles Gott überlassen und braucht sich nicht mehr um sich selbst zu kümmern. Evangelisch gesprochen ist wahre Freiheit die Freiheit vom eigenen Ich. Die Handlungsfreiheit wird irrelevant.
Die Freiheit eines Christenmenschen beginnt nicht bei sich selbst. Sie ist nicht identisch mit der philosophischen Autonomie, und sie wird auch nicht zur Illusion dadurch, dass Hirnforscher die Willensfreiheit in elektrochemische Kausalketten auflösen. Christliche Freiheit ist der zweite Schritt – nachdem Gott den ersten gemacht hat. Sie hat ihren Grund in der Anrede und der bedingungslosen Zusage Gottes. Wenn ich glaube, dass mich diese Liebe trägt und mich nichts davon trennen kann, weder Hohes noch Tiefes, noch kein anderes Geschöpf, dann befreit mich das nicht nur von fremden Ansprüchen und Hierarchien, sondern auch von meinem eigenen Ich. Dann bin ich wahrlich eine freie Herrin über alle Dinge und niemandem untertan.
Christina Aus der Au Heymann ist Theologin und Philosophin und designierte Präsidentin des thurgauischen evangelischen Kirchenrates. Sie tritt ihr Amt im Juni 2022 an. Zudem unterrichtet sie an der pädagogischen Hochschule Thurgau. Früher war Christina Aus der Au u.a. theologische Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung der Universität Zürich sowie Präsidentin des 36. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Berlin und Wittenberg. christina.ausderau@phtg.ch

Weshalb fühle ich mich so unfrei, wenn ich zum Thema «frei» einen Text schreiben soll? Ist es, weil, wenn ich das Wort «Freiheit» höre, ich oft zuerst an deren Gegenteil, die «Unfreiheit», denken muss? Da mir intuitiv in den Sinn kommt, durch was alles die Freiheit bedroht ist oder wo ihre Grenzen liegen? Ich glaube, in meinen Gedanken bin ich ziemlich frei, mit der kleinen Einschränkung, dass ich bloss ein Mensch bin. Zudem wage ich mir, was ich denke, jedenfalls politisch, meist auch laut auszusprechen. Dabei ist mir bewusst, dass und wie ich mich zu gewissen Themen kritisch äussere, mir das zum Nachteil sein kann. Doch wirklich unfrei fühlte ich mich nur, wenn ich mich aus Feigheit selbst zensieren würde oder glaubte, dies zu müssen, um mir irgendwelche Vorteile nicht zu verspielen. Ich denke Selbstverleugnung ist eine der schlimmsten Formen (freiwilliger) Freiheitsbeschneidung. Aber wer, wenn es dazu kommt, würde sich das schon selbst eingestehen?
Denn, dass viele so denken, ist für eine freiheitliche Gesellschaft keine gute Entwicklung. Darüber hinaus: Die Freiheit ist bei uns, wenn auch noch selten augenscheinlich, tatsächlich gefährdet: Die Überwachung unseres Lebens durch Firmen und Staat nimmt mit der Digitalisierung weiter zu, die Pressevielfalt und Qualität nimmt ab, rechtspopulistischer, verschwörungstheoretischer und islamistischer Aktivismus mehren sich. Wir müssen also nicht nur wachsam bleiben, wir müssen auch bereit sein, für unsere Freiheit laut einzustehen. Schweigen aus Bequemlichkeit liegt nicht drin. Die Freiheit gab und gibt es nie gratis.
Ich bin ein Suchender
Die Auseinandersetzung mit der Religion fing bei mir schon früh an. Meine Eltern trugen ihren Glauben nicht nach aussen, aber in unserem Umfeld gab es sehr engagierte Christen. Von ihnen grenzte ich mich ab, denn mit Jesus und der Bibel konnte ich nicht viel anfangen. Dennoch fand ich es interessant, darüber nachzudenken, ob es Gott gibt und was der Sinn des Lebens ist. Die Kirche brauchte ich dazu nicht, ein Philosophiestudium schien mir angemessener.
Dass das Pfarramt etwas für mich sein könnte – eine konkrete Tätigkeit nahe am Leben, die den grossen Fragen Raum gibt – entdeckte ich erst später. Der Vortrag eines Philosophen eröffnete mir einen neuen Zugang zum Christentum: Ich lernte, die christliche Tradition als Symbolsprache zu verstehen, die bildhaft auf das verweist, was sich unserem Verstand entzieht. Und das viele von uns dennoch wahrnehmen und suchen, in der Natur, in der Musik, in Ritualen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, sagt Wittgenstein. Es ist der viel grössere Teil dessen, «was es gibt», und es ist der Teil, zu dem Spiritualität Zugänge schaffen kann. Als Pfarrer hierfür zu sensibilisieren und als Kirche den Menschen Herberge zu bieten, ohne sie zu bevormunden oder durch Wahrheitsansprüche einzuengen, begeistert mich. So habe ich mich für den Quereinstieg ins Theologiestudium entschieden. Ich bin ein Suchender und wünsche mir, mit anderen gemeinsam nach Sinn und Antworten zu schürfen.
