Liebe Leserin, lieber Leser
Unsichtbar wäre ich manchmal ganz gerne. Ich könnte nachts in der Bibliothek schmökern, mich in ein ausverkauftes Konzert schmuggeln und im Internet surfen, ohne Spuren zu hinterlassen. Vielleicht würde ich mich dann lieber in einer idealen unsichtbaren Kirche bewegen, statt in der realen sichtbaren zu wirken? Ganz offensichtlich kann «Unsichtbar» auch schwierig sein: Menschen leiden an (psychischen) Krankheiten, die niemand wahrnimmt. Partner:innen und Kinder pflegen ihre Angehörigen und bleiben unbemerkt. Vielleicht wollten auch Sie schon mal Ihre Sichtbarkeit im Netz radikal reduzieren und sich dort unsichtbar machen? Dann hätten Sie sicher genug Zeit, um sich dem sichtbaren Magazin zum Thema «unsichtbar» zu widmen.
Juliane Hartmann,
Beauftragte für die Ausbildung A+W
Der Gedanke, dass die wahre Kirche eigentlich unsichtbar ist, wurde in einer Krisenzeit geboren. Kann er auch in der heutigen Situation der reformierten Kirche hilfreich sein? Die Idee von der unsichtbaren Kirche hat etwas Tröstendes, sollte aber nicht zu Bequemlichkeit verleiten.
Von Katharina Heyden
Im August des Jahres 410 war Rom, die als uneinnehmbar geltende Hauptstadt des Imperiums, drei Tage lang von westgotischen Wilderern geplündert und verwüstet worden. Für viele Zeitgenossen bedeutete das den Untergang der zivilisierten Welt. Auf der Suche nach Erklärungen für die Katastrophe bedienten sich die alten Eliten vertrauter Denkmuster: Es war wohl die Strafe dafür, dass die Römer ihre traditionellen Kulte vernachlässigt hatten. Immer mehr Menschen hatten sich dem Christentum zugewandt und damit das Staatswesen geschwächt. Kein Wunder, dass die Götter sich rächten.
Da griff Augustinus, einer der einflussreichsten Intellektuellen und seit einigen Jahren Bischof der katholischen Kirche im nordafrikanischen Hippo Regius, zur Feder und setzte unter dem Titel «Von der Bürgerschaft Gottes» (De civitate Dei) zu einer monumentalen Entgegnung an. Die gesamte Geschichte des Römischen Reiches unterzog er einer Revision und Neudeutung, um zu beweisen, dass Gedeih und Verderb einer Gesellschaft nicht von Göttern beschert werden, sondern allein in der Verantwortung der Menschen liegen. Die Weltgeschichte sei im Grunde ein Kampf zweier Gemeinschaften von Menschen: einer himmlischen (civitas caelestis) und einer irdischen (civitas terrena). Aber in der Welt könne man nicht eindeutig bestimmen, wer zu welcher Bürgerschaft gehört. Nicht einmal von den Christen könne man sicher wissen, ob sie alle der himmlischen Bürgerschaft angehören. Deshalb könnten auch keine Rückschlüsse vom irdischen Verhalten der Kirche auf den Willen Gottes gezogen werden.
Kirche als gemischte Körperschaft
Der Gedanke von der Unsichtbarkeit der wahren Kirche wurde von Augustinus aber nicht nur in Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Kritikern zur Geltung gebracht, sondern auch in innerkirchlichen Konflikten. Die grösste Konkurrentin der katholischen Kirche Augustins waren damals die Donatisten, eine Art Freikirche, die sich als eine reine Gemeinschaft von Heiligen verstand. Dieser Kirche durfte nur angehören, wer auch in den Christenverfolgungen den Glauben nicht verleugnet hatte – eine Konsequenz, die viele Menschen anzog und der katholischen «Volkskirche» starke Konkurrenz machte. In Auseinandersetzung mit den Donatisten entwickelte Augustinus eine Lehre von der Kirche als einer gemischten Körperschaft (corpus permixtum). Die sichtbare und auf der Erde handelnde Kirche ist demnach zusammengesetzt aus Sündern und Heiligen, ohne dass für Menschen zu erkennen wäre, wer zu welcher Gruppe gehört. Das sieht allein Gott.
Von zwei Seiten also sah Augustinus seine Kirche bedroht, von innen und von aussen, als er die Idee von der Unsichtbarkeit der wahren Kirche formulierte. Seither hat diese Idee in der Christentumsgeschichte immer wieder dazu gedient, überhöhte Ansprüche an die Kirche von innen und von aussen abzuwehren und zu relativieren. Kann die Idee von der unsichtbaren Kirche auch in der heutigen Situation der Schweizer reformierten Kirche hilfreich sein?
Zweifellos hat der Gedanke von der Unsichtbarkeit der wahren Kirche etwas Tröstliches und Entlastendes: Keine institutionalisierte Kirche muss oder kann hier auf der Erde alle Möglichkeiten der wahren Kirche verwirklichen. Ja, es ist sogar Skepsis angesagt, wenn eine Kirche von sich behauptet, die (einzig) wahre zu sein. Rückschlüsse vom hiesigen Verhalten und Glück auf das Heil bei Gott sind dem Menschen nicht möglich. Und es bleibt Raum für den Gedanken, dass auch ausserhalb der verfassten Kirche christliches Heil erfahren und wahre Kirche gelebt werden kann.
Tröstlicher Gedanke oder billige Entschuldigung
Allerdings sollte sich, wer von der Unsichtbarkeit der Kirche redet, fragen, wozu der Gedanke heute dient. Der in Krisenzeiten tröstliche und zur Gelassenheit ermunternde Gedanke kann nämlich auch als billige Entschuldigung dazu benutzt werden, dass die Kirche die Ansprüche an sich selbst zu niedrig hält. Heute macht niemand mehr die Kirchen für staatliche Krisen verantwortlich. Diese Lektion Augustins haben die Menschen gelernt. Es fragt auch kaum noch jemand, ob die Institution Kirche für das persönliche Heil notwendig sei. Die Behauptung, dass es ausserhalb der Kirche kein Heil geben könne, wie der Amtsvorgänger des Augustinus, Cyprian von Carthago, meinte, flösst – Gott sei Dank! – niemandem Angst ein und verhindert wohl auch keine Austritte aus der reformierten Kirche.
Wozu also dient der Gedanke von der unsichtbaren Kirche heute? Macht er Kirchenaustritte leichter erträglich, weil die wahre Kirche ja viel grösser ist als die Sichtbare? Oder tröstet er darüber hinweg, dass die grossen Fragen des Lebens seit langem und manchmal auch viel gehalt- und wirkungsvoller ausserhalb der Volkskirche thematisiert werden – von Kunstschaffenden und Medienleuten, in Freikirchen und Internet?
Die sichtbaren Kirchen sollten sich nach allen Kräften am Ideal der unsichtbaren wahren Kirche orientieren – und dabei wissen und auch offen darüber sprechen, dass sie dieses Ideal in dieser Welt niemals erreichen können. Als billige Begründung für institutionelle Bequemlichkeit taugt der Gedanke von der Unsichtbarkeit der Kirche nicht. Eher schon als Ansporn, möglichst viel vom unsichtbaren Wesen des Christentums sichtbar zu machen.
Prof. Dr. Katharina Heyden ist ordentliche Professorin für Ältere Geschichte des Christentums und der interreligiösen Begegnungen am Institut für Historische Theologie an der Universität Bern. Sie forscht u.a. zu Religionsgesprächen, interreligiösen Kultorten und Hermeneutiken der Fremdheit und Gastlichkeit sowie zu christlichen Lebensformen und Gotteslehren in Antike und Mittelalter. katharina.heyden@theol.unibe.ch
Unsichtbares macht Angst und es fasziniert. Psychiatrische Erkrankungen wie Zwangsgedanken oder Depression sind unsichtbar. Andere Störungen zeigen sich in auffälligem Verhalten. Ob sichtbar oder unsichtbar, treffen könnten sie uns alle.
Von Juliane Hartmann
Juliane Hartmann: Als Kinder- und Jugendpsychiater bist du auf vielfältige Weise mit dem Unsichtbaren konfrontiert. In welchen Situationen begegnet dir das in deiner Arbeit?
Alain di Gallo (ADG): Das Unsichtbare hat etwas Magisches an sich, gerade bei kleinen Kindern. Sie schliessen die Augen und sagen: «Du siehst mich nicht». Sie denken, sie könnten sich selbst unsichtbar machen. Für Kinder hat das Unsichtbare zum Beispiel auch mit Monstern zu tun, die wie aus dem Nichts im Zimmer erscheinen. Wenn die Eltern dann kommen, sind sie plötzlich nicht mehr da. Das Unsichtbare steht also auch für die magische Angst vor dem Alleinsein, dem nicht wahrgenommen werden, dem nicht mehr existent sein. Sobald eine Person da ist und Sicherheit gibt, verschwindet das Unsichtbare. Es ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn es da ist, obwohl man es nicht sieht.
Warum macht das Unsichtbare solche Angst?
ADG: Etwas sichtbar machen, heisst auch, etwas erkennen. Es bekommt eine Identität, wird handhabbar. Unsichtbares ängstigt jedoch nicht nur, es fasziniert auch. Als Kind war ich begeistert von diesen Heften mit scheinbar leeren Blättern. Wenn ich mit dem Bleistift über die Seiten gefahren bin, kamen plötzlich Zeichnungen aus dem Nichts zum Vorschein. Die Faszination: aus Nichts entsteht etwas. Kleine Kindern sind fasziniert vom Spiel «Gugus – Dada». Kommen und gehen. Sichtbar, unsichtbar. Bei Säuglingen in den ersten Lebensmonaten ist die Unsichtbarkeit der Mutter oder des Vaters vielleicht mit Angst vor Vernichtung und Auflösung verbunden. Objektkonstanz entwickelt sich erst im Verlauf des ersten Lebensjahrs: der Säugling lernt, dass eine Person auch existiert, wenn sie nicht sichtbar ist. Er entwickelt ein inneres Bild dieser Person. Dieses innere Bild ist die Voraussetzung für die Trennungsangst. Weg und wieder da – und dazu die Unsicherheit. Das fasziniert kleine Kinder sehr.
Auch psychiatrische Patient: innen sind zum Teil unsichtbar, wie nimmst du das wahr?
ADG: Patient:innen werden dann sichtbar, wenn sie auffälliges Verhalten zeigen, sei es durch ihr Verhalten oder wenn sie im Wahn reden. Bei Kindern ist das vor allem bei ADHS der Fall, wenn sie aggressiv und hyperaktiv sind oder sie Tics haben. Andere Störungen nimmt man weniger wahr. Kinder mit Zwangsgedanken oder Depression leiden oft unsichtbar und ihre Krankheiten werden erst später erkannt. Psychiatrische Krankheiten sind schwer verständlich und zugleich ahnen alle: das könnte mich auch treffen. In einer psychiatrischen Klink bin ich vor Jahren Lift gefahren. Wir waren zu fünft und haben einander angesehen – alle haben sich gefragt: wer ist hier Patient, wer Arzt? Es war einfach nicht sichtbar … Das war vor 30 Jahren und dieses Erlebnis ist mir in Erinnerung geblieben: Jeder kann auf jeder Seite stehen. Damals im Lift stand ich als junger Assistenzarzt, doch auch ich kann depressiv werden oder eine Angststörung entwickeln.
Ist es für psychiatrische Patient: innen relevant, dass man ihre Krankheit nicht sieht?
ADG: Es gibt verschiedene Seiten: «Soll ich es dem Lehrmeister sagen, dass ich eine ADHS habe? Hilft es ihm zu verstehen, dass ich mich vor zu vielen Reizen schützen und manchmal etwas langsamer arbeiten muss, um Unachtsamkeiten zu vermeiden? Oder denkt er, ich sei verrückt?» Man muss nicht alles sagen, doch es kann auch eine Erleichterung sein. Von einer Allergie würde man leicht erzählen. Ich finde einen offenen Umgang in bedeutungsvollen Momenten sinnvoll. Diagnosen in der Psychiatrie dürfen nicht stigmatisieren. Sie stellen einen Konsens von Expert:innen dar und sind immer diskutierbar. Sie sollen klären und etwas sichtbar machen, was sonst schwer zu fassen wäre.
Arbeitet ihr bei Kindern auch mit Methoden, um das Unsichtbare sichtbar zu machen?
ADG: Gerade mit Kindern arbeiten wir oft mit Bildern. Die Sprache ist in ihrer Direktheit oft zu bedrohlich für sie. Ich habe lange mit krebskranken Kindern gearbeitet. Sie sagen immer, «es geht mir gut» – das ist ein verständlicher Selbstschutz. Doch über Metaphern vermögen viele Kinder, ihre Angst ausdrücken. Ein Kind kann seine Angst, zum Beispiel vor einem Monster, nicht zeichnen – doch wenn es etwas Lustiges zeichnen soll, dann erscheinen plötzlich Monster auf dem Bild. Zeichnungen, Geschichten, Sandspiele; sie alle sind ein Übergangsraum zwischen Fantasie und Realität. Dort bekommt das Unsichtbare einen eigenen Raum. In diesem Zwischenreich können die Kinder und auch ich etwas ausdrücken, das nicht beliebig ist, aber trotzdem einen gewissen Schutz bietet und uns erlaubt, miteinander etwas zu entwickeln. Mit Deutungen bin ich jedoch sehr zurückhaltend. Unbedacht geäussert, können sie den schützenden Raum zerbrechen. Im gemeinsamen Spiel allein erhält das Unsichtbare schon Bedeutung.
Geheimnisse sind auch unsichtbar …
ADG: Geheimnisse darf und soll man haben. Letztlich sind alle unsere Gedanken Geheimnisse. Wir dürfen alles denken, und wir alle denken Sachen, die wir besser nicht aussprechen. Man soll immer gut überlegen, was man mit wem teilt. Darum ist Vertraulichkeit auch in der Psychotherapie grundlegend. Ich frage das Kind immer, ob ich seine Zeichnungen mit den Eltern anschauen darf. Manchmal sagt ein Kind nein: es merkt, da ist etwas, das meine Eltern vielleicht nicht verstehen oder nicht aushalten. Die Zeichnungen sind dann sein Geheimnis, sie sollen für seine Eltern unsichtbar bleiben. Meine Aufgabe ich es, diese Sorgen mit dem Kind aufzunehmen und den Dialog in der Familie zu unterstützen.
Unsichtbares hat eine grosse Macht und Präsenz – gibt es auch Wege, das zu nutzen?
ADG: Man sollte versuchen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, dann kann man es nutzen. In der Therapie arbeite wir manchmal auch mit Kraftorten oder Krafttieren, wir suchen nach Ressourcen im Kind. Wo fühlt es sich sicher? Wen könnte es dabeihaben? Ein Kind sagt zum Beispiel: «ich habe einen Drachen auf der Schulter, der hilft mir». Das hat etwas Spielerisches, Metaphorisches. Der Drache repräsentiert die eigene Kraft und muss für die anderen gar nicht sichtbar sein.
In den letzten Jahren war die Angst vor etwas Unsichtbarem dominant. Unterscheiden sich die Ängste von Kindern und Erwachsenen?
ADG: Corona war eine Bedrohung vor einem unsichtbaren Virus, das sich nicht kontrollieren liess und dem sich niemand entziehen konnte. Es gab keinen sicheren Ort auf der Welt. Das war eine neue Erfahrung, die bei allen Menschen eine grosse Verunsicherung ausgelöst hat. Kinder ängstigten sich weniger vor dem für sie weitgehend ungefährlichen Virus als davor, liebe Menschen zu verlieren, einsam zu sein oder einen wichtigen Teil des Lebens zu verpassen. Die Jungen haben sich während der Pandemie unglaublich solidarisch verhalten. Wir Erwachsenen waren in unserer Zerstrittenheit nicht immer ein gutes Vorbild. Das sind wir auch nicht im Umgang mit dem Klimawandel. Und auch gegenüber dem Krieg in der Ukraine sind wir ohnmächtig. Die Kinder schauen genau, wie wir mit diesen Herausforderungen umgehen, und sie sind für ihre gesunde Entwicklung darauf angewiesen, Antworten auf alle ihre Fragen zu erhalten.
Prof. Dr. med. Alain di Gallo ist ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Zu seinen klinischen und Forschungsinteressen gehören die psychischen Folgen von körperlichen Erkrankungen und Unfällen bei Kindern und Jugendlichen sowie Kinder psychisch und körperlich kranker Eltern. alain.digallo@upk.ch
Tipp: Erste Hilfe für psychische Gesundheit (ab 5. September 2023)
Sie wirken im Privaten. Unauffällig, pflichtbewusst. Pflegende Angehörige kümmern sich oft bis zum eigenen Zusammenbruch um Familienangehörige. Die Kirche bietet diesen Menschen mit verschiedenen Angeboten Unterstützung und setzt sich für die Anerkennung der Care-Arbeit ein.
Von Esther Derendinger
«Eine der wichtigsten Aufgaben ist, pflegenden Angehörigen den Rücken zu stärken und zu schauen, dass sie auch gut für sich selbst sorgen», sagt Ursula Jarvis. Sie leitet in der Kirchgemeinde Affoltern am Albis Gesprächsgruppen für pflegende Angehörige. Eigentlich wäre sie bereits pensioniert. Die Beratung von pflegenden Ehepartnerinnen und -partnern, (Schwieger)töchtern und -söhnen liegt ihr jedoch am Herzen. Deshalb arbeitet Ursula Jarvis weiterhin mit einem 10-Prozent-Pensum und leitet Gesprächs- und Trauergruppen. Zurzeit nehmen fünf Personen an den monatlichen Treffen teil. Das Angebot sei noch wenig bekannt, erklärt die gelernte Pflegefachfrau und Sozialdiakonin. Teilnehmende finden den Weg in ihre Gesprächsgruppen über das Kirchenblatt oder über Demenzgruppen, meist jedoch über Mundpropaganda.
In den Gesprächsgruppen und Einzelgesprächen können sich pflegende Angehörige über ihre Sorgen austauschen. Meist verstehen nur Personen in der gleichen Situation, was die Herausforderungen im Pflegealltag wirklich bedeuten. «Da müssen sich Erschöpfte nicht erklären oder sich rechtfertigen, wenn ihnen der Geduldsfaden einmal reisst», sagt Ursula Jarvis und ergänzt: «Pflegende Angehörige brauchen Menschen, die ihnen zuhören, ihre geleistete Arbeit anerkennen, und: es braucht Menschen, die ihnen die eigenen Grenzen aufzeigen.» In den Austauschrunden ist Raum da, um unangenehme Fragen zu besprechen. Beispielsweise Konflikte pflegender Ehepartner mit den Kindern, denn häufig sind sie sich nicht einig, wie die Pflege aussehen soll. Es geht aber auch stark darum, Unterstützungsangebote zu vermitteln und gerade die ältere Generation dazu zu ermuntern, die Entlastungsangebote in Anspruch zu nehmen. Nach wie vor leisten vor allem Frauen Care-Arbeit. Viele von ihnen opfern sich auf bis zur eigenen Erschöpfung. Sie übernehmen eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, sind für alles verantwortlich, von Pflege über Psyche bis Steuererklärung. «An meinen Gesprächsgruppen nehmen auch Männer teil», erzählt Ursula Jarvis. «Interessant ist zu sehen, dass Männer genauso fürsorglich sind. Sie können jedoch früher Grenzen setzen und Hilfe annehmen und beispielsweise die Pflege einer Spitex überlassen.»
Eine Generationenfrage
Die Care-Arbeit wird in der Öffentlichkeit kaum thematisiert. Sie passiert leise im Hintergrund. «Das ist auch eine Generationenfrage», sagt Ursula Jarvis. «Ältere Menschen getrauen sich kaum, Hilfe zu beanspruchen, schon der Besuch einer Spitex wird oft abgelehnt». So ist es nicht verwunderlich, dass Besuchsdienste eher von Kindern für ihre Eltern nachgefragt werden, als dass ältere Menschen oder ihre pflegenden Partner selbst anrufen würden. Viele Angehörige fühlen sich aber auch zur Betreuung und Pflege verpflichtet. Wenn sie es nicht tun, plagt sie ein schlechtes Gewissen.
Vernetzung ist zentral
Die Kirche tut einiges, um pflegende Angehörige zu unterstützen und die Angebote sichtbar zu machen. Gesprächsgruppen und Einzelgespräche leisten bereits einen wertvollen Beitrag für Betroffene. Entlastungsangebote wie Besuchsdienste von Freiwilligen sind ebenfalls hilfreich. Schon ein paar Stunden Pause sind für Pflegende Gold wert. Um die Dienstleistungen der Kirche bekannter zu machen, vernetzt sich Ursula Jarvis mit verschiedensten Organisationen, engagiert sich in diversen Gruppen für das Alter und pflegt Kontakte zu Spitex, Pro Senectute, zur Alzheimergesellschaft Zürich, wo sie auch Kursleiterin ist, zur politischen Gemeinde oder zum Verein «wabe Knonaueramt», den sie präsidiert. Der Verein bietet die Begleitung von Schwerkranken und Palliativ Care an. Dazu sagt sie: «Es scheint mir wichtig, dass das Engagement der reformierten Kirche in möglichst vielen Organisationen bekannt ist. Die Angebote sind niederschwellig und kostenlos.» Oft geht vergessen, dass viele Rentner:innen mit einem kleinen Budget zurechtkommen müssen. Sie können sich nicht einfach Dienstleistungen einkaufen. Deshalb ist auch die Freiwilligenarbeit der Kirche unverzichtbar. Müssten diese Leistungen durch Fachkräfte abgedeckt werden, könnten sich das viele nicht mehr leisten. Die Freiwilligenarbeit in der Kirche ist professioneller geworden. Freiwillige werden durch Fachkräfte begleitet und sie können regelmässig Weiterbildungen besuchen. «Viele schätzen diese Möglichkeit und sind dankbar für die Impulse von Profis, die sie für ihre Arbeit erhalten», weiss Jarvis. Viele Freiwillige übernehmen Aufgaben im Entlastungsdienst und setzen sich mit Palliativ Care auseinander. Dazu gehören auch die «Letzte-Hilfe-Kurse», die schweizweit bereits über 4500 Personen besucht haben.
Pflege ist nicht Privatsache
Aus Sicht von Ursula Jarvis ist Care-Arbeit gesellschaftlich nicht genug anerkannt. Rund 20 Prozent der in der Schweiz geleisteten Arbeit ist bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit. Das ist der breiten Öffentlichkeit kaum bewusst. Mit dem demografischen Wandel der Gesellschaft ist auch die Politik gefordert, Lösungen zu finden und beispielsweise pflegende Angehörige zu entschädigen. Zudem verändern sich mit der Babyboomer-Generation (1946–1964) die Ansprüche. Individuelle Lösungen sind gefragt, neue Formen entstehen. Trotzdem fühlen sich noch immer viele verantwortlich, ihre Partner:innen oder Eltern zu pflegen, was nicht funktionieren kann, wenn sie selbst noch berufstätig sind.
Die Rolle der Kirche? Sie lebt diakonisch und unterstützt alle, die Hilfe benötigen, egal ob sie Mitglied sind oder nicht. Für Ursula Jarvis ist klar: «Wir wollen Pflegende ermutigen, ihre Angehörigen zu Hause zu pflegen, wenn das möglich ist. Und sie darin bestärken, rechtzeitig Hilfe anzunehmen, damit sie auch sich Sorge tragen können.»
Ursula Jarvis ist (teil-)pensioniert. Sie begleitet und berät mit einem 10-Prozent-Pensum in Affoltern am Albis pflegende Angehörige. Davor war die gelernte Pflegefachfrau während 21 Jahren Sozialdiakonin in Mettmenstetten und initiierte zahlreiche Initiativen zur Unterstützung von pflegenden Angehörigen. Sie verfügt über Ausbildungen und viel Praxiserfahrung in den Bereichen Pflegende Angehörige, Beratung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen, Umgang mit Menschen mit Demenz und Palliativ Care. ursula.jarvis@ref-knonaueramt.ch
Die neue Projektleiterin Nachwuchsförderung, Barbara Schlunegger, hat sich aus den sozialen Medien verabschiedet. Was dieser Entschluss mit Macht, Status und dem Recht auf Unsichtbarkeit zu tun hat, diskutiert sie mit dem Medienwissenschaftler Prof. Guido Zurstiege.
Von Barbara Schlunegger
Ich bin weiblich, 28 Jahre alt und damit eine Millenial. Vor zwei Monaten bin ich von einem Tag auf den anderen aus den sozialen Medien Instagram und Facebook ausgestiegen: Seither fühle ich mich freier, geerdeter und kann mich besser konzentrieren, weil ich nur noch in einer Welt lebe.
Ausgehend von einer Art digitalen Evolutionsprozess der Menschheit, an dessen Anfang die ungebremste, unregulierte Begeisterung für ein neues Medium steht, frage ich mich, wo wir als westliche Gesellschaft in Bezug auf die sozialen Medien 2022 stehen. Ich mache vermehrt die Beobachtung, dass sich um mich herum eine gewisse mediale Ernüchterung breit- macht. Menschen sehnen sich nach einem Stück Analogie zurück. Bilde ich mir das nur ein oder realisieren immer mehr Leute, dass sie das permanente Online-Sein müde und leer macht? Stehe ich mit meiner Sehnsucht nach dem Analogen, nach einem Stück digitaler Unsichtbarkeit, sogar als Digital Native, nicht alleine da? Was ist eigentlich Realität? Und warum kriegen wir keinen ausgewogenen Umgang mit Facebook und Instagram hin, obwohl wir es uns wünschen? Mir kommt Paulus mit dem Römerbrief in den Sinn: das Gute, das ich will, tue ich nicht. Brandaktuell, dieser Kerl.
Wie im Analogen, so im Digitalen
Über mein Anliegen habe ich mich mit Prof. Guido Zurstiege unterhalten. Er ist 54 Jahre alt und forscht in Tübingen über Phänomene der digitalen Entnetzung. Ich frage bei unserem Zoom-Gespräch, ob ich mit meinem Soziale-Medien-Verzicht eine Exotin sei. Er meint, dass so ein Entschluss, digital zu reduzieren, auch für einen Millenial nicht ungewöhnlich sei.
So wie Menschen auch im analogen Raum Zeiten des Rückzugs bräuchten, würden sie es auch im Internet benötigen, erzählt der Medienforscher. Zurstiege weiter: «Es gehört zur digitalen Medienkompetenz heute dazu, nicht nur zu wissen, wann man einschaltet, sondern auch, wann man ausschaltet.»
Punktuelle Unsichtbarkeit
Ich bleibe etwas am Wort «reduzieren» hängen. Ich bin doch bei Instagram raus? Zurstiege behauptet aber, dass der digitale Ausstieg in dieser Welt gar nicht mehr möglich sei. Er macht ein Beispiel: «Ich kann zwar meinen Instagram-Account löschen, aber als Digitalverweigerin kann ich heute kein Studium mehr abschliessen. Gerade deshalb werden punktuelle Verzichtsszenarien immer wichtiger.» Heisst also: Ganz auf digitale Medien zu verzichten, wird schwierig. Aus diesem Grund wird die Möglichkeit, sich für einen gewissen Zeitraum digital unsichtbar zu machen, immer wichtiger. Ich denke mir hier aber, dass wenn jemand nur sein Instagram-Profil nicht bedient und offline geht, seine oder ihre Daten Zuckerberg und seiner Maschinerie ja trotzdem zur Verfügung stehen. Meine Daten machen mich also im Netz weiterhin sichtbar, auch wenn ich nicht aktiv interagiere.
Ich überlege weiter: Was hat der Fakt, dass ich eine junge, weisse Cis-Frau aus der gehobenen Mittelschicht bin, mit meiner Entscheidung, Instagram und Co. hinter mir zu lassen, zu tun? Mein Interviewpartner meint: jede Menge! – «Der Verzicht auf digitale Medien setzt immer Besitz voraus.» Die digitale Diät sei genauso ein Wohlstandsphänomen wie die reale: «Wer fastet, muss es sich leisten können.» Aber können sich alle Menschen Zeiten der Entnetzung leisten? Ich ahne die Stossrichtung seiner Antwort: «Denken wir beispielsweise an die flexploitete amerikanische Arbeitsschicht. Da ist eine Uber-Fahrerin, die auf Abruf bereitstehen muss, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie kann nicht einfach sagen ‹ich schalt› jetzt mal mein Handy ab›. Da wäre Entnetzung ein kompletter Einkommensverlust.»
Genauso, wie ich mich auf den sozialen Medien inszeniere, sagt auch mein digitaler Abgang etwas über mich aus, ich mache damit ein State-
ment. Aber welches? Für mich persönlich waren die Motive, die mich zum Löschen der Accounts bewegt hatten, dass ich wieder die Kontrolle darüber zurückgewinnen wollte, worin ich meine Aufmerksamkeit investiere. Zweitens hatte ich oft die Erfahrung gemacht, dass ich mich nach der Nutzung bestimmter Portale leer und unbefriedigt fühlte. Zurstiege führt in diesem Zusammenhang zwei Begriffe ins Feld: Einerseits ein emphatisches Authentizitätsverständnis, das diese Leute mitbringen, und zweitens das menschliche Bedürfnis nach Autonomie. Das heisst, dass Menschen wieder vermehrt selbst bestimmen möchten, was sie wem wie lange zeigen und was nicht. Zudem würden Face-to-face-Begegnungen einem digitalen Erleben bevorzugt.
Seelsorge soll im Netz präsent sein
In diesem Zusammenhang möchte ich noch wissen, ob jeder Mensch ein «Recht auf Nichterreichbarkeit», resp. ein Recht auf digitale Unsichtbarkeit hat. Der Tübinger fragt zurück, was ein Recht wert sei , das man nicht einlösen könne? Was bedeutet digitale Unsichtbarkeit? Für ihn ist klar: «Jeder Mensch hat ein Recht auf Privatsphäre. Das heisst, dass bestimmte Bereiche meines Lebens nicht einsehbar sind.» Problematisch wurde es für ihn beispielsweise, als Facebook die Regelung einführte, dass man sich auf der Plattform mit seinem echten Namen anmelden muss. «Da könnte ich mir ein Recht auf den Gebrauch von Avataren und Pseudonymen als Recht auf Unsichtbarkeit vorstellen», sagt Zurstiege.
Mich interessiert auch seine Perspektive auf die kirchliche Welt. Ich möchte wissen, wie er die Sichtbarkeit der Kirchen im Netz wahrnimmt. Der Professor muss nicht lange überlegen: «Die Kirche macht viele wichtige Angebote, zum Beispiel im Bereich der Seelsorge. Weil das Netz immer mehr zum Ort wird, wo wir leben, sollte auch die Seelsorge dort sein – nicht nur als PR-Oberfläche, sondern als aktive Anbieterin von Hilfe.»
Prof. Dr. Guido Zurstiege hat an der Universität Tübingen eine Professur für Medienwissenschaft mit Schwerpunkt empirische Medienforschung inne. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte sind Medienkultur und Mediennutzung. guido.zurstiege@uni-tuebingen.de
Buchtipp: Zurstiege, Guido: Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter.
Barbara Schlunegger ist seit April 2022 Projektleiterin bei A+W und verantwortet den Bereich Nachwuchsförderung Theologiestudium und ist im Masterstudium Theologie. Als Digital Native hat sie sich von den Sozialen Medien Facebook und Instagram verabschiedet. barbara.schlunegger@zhref.ch

Ich habe mehrere Familienmitglieder, die man nicht direkt sieht. Da sagen Menschen dann, den oder das fühlten sie, und alle nicken, als wüssten sie genau, was gemeint ist. Unsichtbare haben es nicht so leicht. Sie haben – geradezu wortwörtlich – kein Ansehen und geniessen infolgedessen wenig davon bei denen, die sie nicht, aber so gar nicht wahrnehmen. Ungeniert – wie man sein könnte, so körperlos und doch präsent – sind trotzdem nur die Wenigsten unter ihnen. Keiner fragt sie oder bezieht sie ein. Darunter leiden sie, statt dass sie eine unerhörte Freiheit fühlten.
In meiner Familie sind sie wohlgelitten. Nicht alle sind Präsenzen toter Menschen oder verstorbener Haustiere. Viele sind oder waren schon immer körperlos, was ja eine der grundlegendsten Prämissen der Unsichtbarkeit ist. Viele sind Götter oder zumindest gute Geister. Sie sind verehrte Figuren der Weltliteratur, der Historie, sind Politiker oder herbeigerufene Heilige, verflossene Geliebte der Grossmutter oder des Grossvaters, Geistervolk, das unser Bauernhaus schon bewohnte, als wir gerade mal im Begriff waren, dort einzuziehen. So unsichtbar sind sie ständig präsent. Als Kind war ich davon überzeugt, dass «tot sein» «überall sein» bedeutete und von daher fast erstrebenswert war.
Als Kind ist man ja sowieso viel öfter furchtsam, furchtlos und furchtbar in unsichtbarster und zugleich präsentester Art und Weise.
Nora Gorminger ist für vier Ausgaben unsere Kolumnistin. Die Schriftstellerin hat Amerikanistik, Germanistik und Kunstgeschichte studiert und danach eine Promotion im Fach Amerikanistik begonnen. Seit 2010 leitet sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg als Direktorin. Zahlreiche Aufträge, Aufenthaltsstipendien und Lehraufträge führen sie als Autorin, Dozentin und Performerin rund um den Globus. www.nora-gomringer.de
Momente der Stille
Als kleines Mädchen liebte ich den Weihnachtsgottesdienst und erklärte meinen Eltern: Ich will Pfarrerin werden. Dieser Entschluss geriet ins Wanken, als ich Theologie studierte. Die Sprachen fielen mir leicht, aber wenn es um die Bibel ging, kam ich mir vor wie von einem anderen Stern. Ich wusste nichts! Auch die Formen von Spiritualität, die ich bei Mitstudierenden erlebte, waren mir fremd. Ich begann stark daran zu zweifeln, ob ich wirklich Pfarrerin werden sollte. Zweimal bewarb ich mich für andere Ausbildungen, zuerst wollte ich Hebamme werden, dann Polizistin. Beide Mal scheiterte ich an der Zulassung.
Erst nach dem Studium habe ich gelernt, meinen eigenen Zugang zum Glauben wertzuschätzen. Spiritualität heisst für mich: Momente finden, in denen ich mich fürs Göttliche öffnen kann. Bei mir geschieht dies, wenn ich die Stille suche. Bei anderen geschieht es in der Gemeinschaft. Etwa bei dem Mann, zu dem in der Pandemie eine seelsorgerliche Beziehung ent-
stand, obwohl er nie etwas mit Kirche anfangen konnte. Letzten Sonntag sah ich ihn im Gottesdienst. Er stand beim Segen da, mit offenen Händen. Und sagte mir: Ich habe endlich wieder Sinn gefunden.
Kirche soll da sein und solche Momente ermöglichen. Sie soll Räume öffnen, Gefässe anbieten, Menschen auf ihrer Suche begleiten. Ich weiss nicht, ob ich lebenslang Pfarrerin sein werde. Aber jetzt bin ich es gerne.
